dodis.ch/10152
Der Chef der Abteilung für Politische Angelegenheiten des Politischen Departements, A. Zehnder, an den Direktor der Handelsabteilung des Volkwirtschaftlichen Departements, H. Schaffner1

WEST-OST HANDEL

1. Die massgebende politische Überlegung, die es uns erlaubte, einem Gentlemen’s-Agreement über den West-Ost Handel2 zuzustimmen, war der Wunsch, der Schweiz international den Ruf eines Kriegsgewinnlers oder «Profiteur de la guerre» zu ersparen. Die Schweiz wollte dementsprechend nicht von einer Lage profitieren, die andere aus uns ferne stehenden Gründen geschaffen hatten.

So war es denn auch nicht an der Schweiz, zu polemisieren oder andere Staaten zu belehren, vielmehr hatte sie autonom eine Schlussfolgerung für sich aus der nun einmal geschaffenen Lage zu ziehen.

Diese Stellungnahme der Schweiz war solange logisch und international vertretbar als die Voraussetzungen bestanden, welche zu Blockadenmassnahmen des Westens gegen den Osten führten. Diese Voraussetzungen waren: Bestehen eines Krieges und Knappheit der Rohstoffe.

Seit dem Waffenstillstand in Korea (Juli 1953)3 und der Einstellung des Feuers in Indochina (Juli 1954)4 besteht jetzt kein mit Waffen ausgetragener Krieg zwischen dem Westen und dem Osten. Die Warenknappheit und insbesondere die Rohstoffknappheit sind ebenfalls verschwunden. Die beiden Voraussetzungen für die Rechtfertigung der Blockade sind damit weggefallen. Somit ist auch die wichtigste Voraussetzung für eine Rücksichtnahme der Schweiz auf eine angebliche Zwangslage des Westens dahingefallen.

Die Schweiz wäre also heute grundsätzlich frei, zu erklären, das Gentlemen’s-Agreement Hotz-Linder sei obsolet geworden. Selbst die taktische Überlegung, nicht vorzuprellen solange der Präsident der USA5 in der Uhrenzollfrage keinen Entscheid getroffen hat, ist überholt6.

2. Dies gesagt, ist die tatbeständliche Lage international so, dass der Westen (resp. CoCom7) völkerrechtlich mutwillig eine im Umfang wesentlich reduzierte, aber in der Striktheit der Anwendung verschärfte Blockade gegen den Osten fortsetzt. Die Frage der Haltung der Schweiz gegenüber diesem neuen Tatbestand ist also jetzt unter dem Gesichtspunkte der sauberen neutralen Haltung neu zu definieren8. Das Problem der Sauberkeit ist dabei offenbar dasselbe wie zur Zeit des Abschlusses des Gentlemen’s-Agreements, also: nicht profitieren von einer Selbstbeschränkung, die andere sich im Export nach dem Osten auferlegen, ohne uns in eine Polemik über die völkerrechtliche Zuverlässigkeit einer Blockade im Frieden einzulassen.

Wir stehen also vor einer Frage der Neutralitätspolitik und nicht des Neutralitätsrechts9. Obgleich auch ein neutraler Staat in Friedenszeiten grundsätzlich vollständig frei ist, seine Politik zu gestalten, so wie es ihm beliebt, hat ein dauernd neutraler Staat diese doch so einzurichten, dass er aus seiner Haltung im Frieden nicht automatisch im Kriegsfalle von anderen Staaten in einen der Staatenblöcke eingereiht wird. Für unseren Entscheid stehen somit die Grundsätze der Unparteilichkeit und Gleichbehandlung im Vordergrund.

3. Um diesen Grundsätzen nachzuleben, wird es notwendig sein, wiederum vom «courant normal» auszugehen. Im Gegensatz zu bisher sollte dieser nicht im Einvernehmen oder auf Grund der Wünsche der Amerikaner, sondern autonom festgelegt werden. Es ist also notwendig, das Vertragsverhältnis (Agreement Hotz-Linder) zu lösen und es durch eine autonome schweizerische Massnahme zu ersetzen. Sowohl die Stichjahre, wie die Positionen sollten von uns allein ausgewählt und berechnet werden, wobei wir uns vorbehalten sollten, einige traditionelle Artikel, wie etwa gewisse Typen der Werkzeugmaschinen oder Elektroausrüstungen, von uns aus von der heute geltenden CoCom-Liste zu streichen.

Eine Verschärfung der zur Zeit geltenden schweizerischen Überwachungsbestimmungen kommt überhaupt nicht in Frage. Das Einfuhrzertifikat gibt international die gewünschte Garantie gegen Missbräuche10. Dieses sollte den CoCom-Ländern ausdrücklich in Erinnerung gerufen werden.

Endgültig abzustellen ist die Kontrolle unserer Praxis durch Beamte der amerikanischen Botschaft. Nach Festlegung unserer autonomen Linie sind wir niemandem mehr Auskunft schuldig über bewilligte oder abgelehnte Einzelgeschäfte. Um unsere Beziehungen zu den USA und den CoCom-Ländern nicht abrupt einer zu starken Belastung auszusetzen, scheint es uns taktisch richtig, während einer Übergangszeit die amerikanischen Behörden im Wege der schweizerischen Gesandtschaft in Washington über die Ausfuhren nach den Oststaaten, summarisch detailliert, zu orientieren.

China soll inskünftig von uns genau so behandelt werden wie alle übrigen Oststaaten11.

4. Was das taktische Vorgehen anbetrifft, so kann man sich fragen, ob einer einseitig verfügten Massnahme der Schweiz nicht eine Erklärung unseres Standpunktes vorgängig der Inkraftsetzung auf diplomatischem Wege vorangehen sollte, etwa in dem Sinne, dass wir unsere Doktrin und das Mass der Überwachung und der Kontingentierung bekanntgeben mit der ausdrücklichen Mitteilung, dass es das Maximum dessen sei, was wir zu tun bereit seien; sollten uns Vorhalte und Schwierigkeiten gemacht werden, müssten wir unsere volle Freiheit zurücknehmen12.

1
Schreiben (Kopie): E 2001(E)1969/121/5. Paraphe: FS. Das Schreiben wurde ebenfalls an den Delegierten des Vorortes des schweizerischen Handels- und Industrievereins, H. Homberger, und an den Stellvertreter des Chefs der Abteilung für Politische Angelegenheiten des Politischen Departements, E. von Graffenried, gerichtet.
2
Vgl. DDS, Bd. 18, Dok. 105, dodis.ch/8820 und 106 (dodis.ch/7230). Vgl. auch den Bericht von Hotz an die Wirtschafts-und Finanzdelegation des Bundesrates, vom 24. April 1953 (dodis.ch/10700).
3
Vgl. Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Gute Dienste.
4
Vgl. Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Indochina.
5
Dwight D. Eisenhower.
6
Zur Frage des Uhrenzolls vgl. Nrn. 118, 130, 136 in diesem Band.
7
Coordinating Committee for Multilateral Export Controls.
8
Vgl. Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Grundlagen der Aussen- und Neutralitätspolitik.
9
Vgl. DDS, Bd. 18, Dok. 113, dodis.ch/8743(dodis.ch/8743).
10
Vgl. DDS, Bd. 18, Dok. 84, dodis.ch/7231, Annex (dodis.ch/8911), Anm. 7 und 8.
11
Zur Frage des Abschlusses eines Handelsvertrages mit China vgl. DDS, Bd. 19, Dok. 114, dodis.ch/8176.
12
Vgl. BR-Prot. Nr. 1614 vom 27. September 1954, E 1004.1(-)-/1/569 (dodis.ch/10369). Dem Entscheid des Bundesrates gingen zwei Sitzungen der Ständigen Delegation für Wirtschaftsverhandlungen mit dem Ausland vom 26. August bzw. 15. September und eine Sitzung der bundesrätlichen Wirtschafts- und Finanzdelegation voraus. Nicht abgedruckt.