dodis.ch/12938
Der schweizerische Geschäftsträger a. i. in Moskau, R. Hunziker, an den Vorsteher des politischen Departements, M. Petitpierre1

ZWEITE REDE CHRUSCHTSCHOWS AM KONGRESS DER KPDSU

In Ergänzung meines politischen Berichtes vom 28. Februar über den XX. Kongress der KPdSU2 beehre ich mich, Ihnen nachstehend eine Nachricht zur Kenntnis zu bringen, die aus absolut zuverlässiger Quelle stammt.

Am vorletzten Tag des Parteikongresses hat eine Geheimsitzung stattgefunden, an welcher Chruschtschew eine bemerkenswerte Rede hielt. Bei diesem Anlass zog er nämlich die Bilanz der stalinschen Epoche.

Am Anfang seiner Regierungstätigkeit sei Stalin für die Einführung mancher guter Neuerung verantwortlich gewesen. Während dieser Zeit habe die Sowjetunion ihm etliche beachtenswerte Erfolge zu verdanken. Vom XVII. Parteikongress (1934) an, sei er indessen je länger desto mehr seinen Machtgelüsten erlegen. Dabei habe er sich – und das ist nach Chruschtschow das Schwerwiegende – weitgehend von der marxistisch-leninistischen Lehre entfernt. Was Stalin von jenem Zeitpunkt an unternommen habe, müsse man daher grösstenteils verurteilen.

Unter anderem machte Chruschtschow ihn dafür verantwortlich, dass die Sowjetunion im Jahre 1941 völlig unvorbereitet in den Krieg habe eintreten müssen. Stalin habe die damaligen Warnungen Churchills vor den Absichten Hitlers in den Wind geschlagen. Stalin sei daran schuld, dass es der Sowjetarmee nicht nur an Ausrüstung und Bewaffnung, sondern auch an geeigneter Führung gefehlt habe. In diesem Zusammenhang wurde von Chruschtschow auf die Dezimierung des Offizierskorps durch die irrsinnigen Säuberungsaktionen Stalins hingewiesen.

Nach Chruschtschows Aussagen soll man es bei Stalin während der letzten Jahre seines Lebens mit einem machtversessenen Despoten zu tun gehabt haben. Das von ihm geschaffene Terrorregime könne durch nichts gerechtfertigt werden. Die Leute in seiner nächsten Umgebung seien ihres Lebens keinen Augenblick sicher gewesen. So habe z. B. Frau Bulganin3 nie gewusst, ob sie ihren Mann am Abend noch lebend sehen werde.

Die zunehmende Nichtbeachtung der Dogmen von Marx und Lenin durch Stalin hat nach Chruschtschow zu vielen Misserfolgen der internen und externen Sowjetpolitik geführt. Chruschtschow beendete seine Rede, in deren Verlauf er laut meinem Gewährsmann mehrmals aus Emotion anhalten musste, durch ein feierliches Bekenntnis zum Leninismus.

Die Nachricht über das, was sich an jener Geheimsitzung zugetragen hat, überrascht insofern, als man sich fragen muss, weshalb Chruschtschow in seinem 6 1/2-stündigen Rechenschaftsbericht zu Beginn des Kongresses Stalin nur indirekt und in relativ milder Form kritisiert hat; bekanntlich überliess er es Mikojan, den Helden zu entthronen. Die unbestreitbare Tendenz des Parteikongresses, die Kollektivführung zu betonen und den Personenkult abzuschaffen, steht in krassem Gegensatz zum tatsächlichen Machtaufstieg Chruschtschows. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, dass der Erste Parteisekretär es im Laufe der letzten Monate verstanden hat, sich je länger desto mehr als Führer der Sowjetregierung in den Vordergrund zu rücken. Die Verurteilung des Diktatorprinzips am Parteikongress hat dieser Entwicklung merkwürdigerweise keinen Abbruch getan. Man kann wohl mit Recht behaupten, dass Chruschtschows Stellung durch die Parteitagung noch gestärkt worden ist. Seine seitherige Ernennung zum Vorsitzenden des «Büros für die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) beim Zentralkomitee der KPdSU», wodurch er die Geschäfte der weitaus grössten und wichtigsten Sowjetrepublik noch fester in die Hand bekommen hat, bestätigt dies (vgl. hierüber mein Schreiben vom 2. März 4.G.10.- de4). Wie weit diese Entwicklung zur Vereinigung der Macht in der Hand Chruschtschows führen wird, lässt sich heute schwer beurteilen. Ob es aber – wie verschiedene hiesige Beobachter voraussagen – zu einer harten Auseinandersetzung zwischen ihm und den Anhängern des kollektiven Regierungssystems kommen wird, steht vorläufig auf einem andern Blatt5.

1
E 2300(-)-/9001/288.
2
Vgl. den Politischen Bericht Nr. 1 von R. Hunziker an M. Petitpierre vom 28. Februar 1956. Nicht abgedruckt.
3
L. I. Bulganina, die Ehefrau N. A. Bulganins.
4
Vgl. E 2001(E)1970/217/77.
5
Betreffend die Spekulationen über die Folgen der Destalinisierung auf die Politik der Sowjetunion vgl. DDS, Bd. 20, Dok. 67, dodis.ch/11155.