1. Gestützt auf Art. 16 des Bundesgesetzes vom 30. September 1955 über die wirtschaftliche Kriegsvorsorge2 fasste der Bundesrat am 12. April 1957 folgende Beschlüsse: a) Bundesratsbeschluss betreffend vorsorgliche Schutzmassnahmen für juristische Personen, Personengesellschaften und Einzelfirmen (Sitzverlegungsbeschluss)3; b) Bundesratsbeschluss über den Schutz von Wertpapieren une ähnlichen
Urkunden durch vorsorgliche Massnahmen (Wertpapierbeschluss)4.
Der Sitzverlegungsbeschluss, der am 4. Juli 19585 in einigen Nebenpunkten noch leicht abgeändert wurde, wird durch eine Vollziehungsverordnung6 ergänzt. Die genannten Texte sind beigeheftet (Beilagen 1–3)7. Vorgeschichte,
Werdegang und Bedeutung dieser neuartigen gesetzlichen Vorbereitung auf den Kriegsfall sind in einem ausführlichen Bericht des Justiz- und Polizeidepartementes, der auf Prof. Sauser-Hall als Verfasser zurückgeht, eingehend dargelegt (Beilage 4)8. Den schweizerischen Auslandvertretungen wurde ausserdem eine Instruktion betreffend die Handelsregisterführung im Ausland im
Fall von internationalen Konflikten zugestellt (Beilage 5)9.
2. Auf eine kurze Formel gebracht liegt Sinn une Zweck der Sitzverlegung darin, einerseits schweizerische Firmen und die, in ihnen verkörperten Interessen im Kriegsfall unserer Volkswirtschaft zu erhalten und dem eventuellen
Zugriff einer Besetzungsmacht zu entziehen, anderseits aber auch, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass schweizerische Vermögenswerte im Falle einer
Okkupation unseres Territoriums durch eine Kriegspartei von der Gegenpartei nicht als Feindesgut behandelt werden. Dieses Ziel soll dadurch erreicht werden, dass die, ihren Sitz im Rahmen des Sitzverlegungsbeschlusses ins Ausland verlegenden Gesellschaften grundsätzlich überall den im Zeitpunkt der Sitzverlegung geltenden Bestimmungen des schweizerischen Rechts, namentlich hinsichtlich ihrer Errichtung und ihres Personalstatuts, unterworfen bleiben sollen; lediglich in Bezug auf die wirtschaftliche Tätigkeit der fraglichen Firmen am neuen Sitz bleiben die dort geltenden Bestimmungen des öffentlichen
Rechts vorbehalten.
Die Anmeldung der Sitzverlegung durch eine Firma bedeutet nicht die sofortige Verlegung des Sitzes. Es handelt sich vielmehr um eine für die Zukunft gedachte Vorsichtsmassnahme. Der Zeitpunkt, in dem sie Rechtswirksamkeit erlangt, wird in einem späteren Beschluss durch den Bundesrat bei Eintritt der vorgesehenen Gefährdung bestimmt; ist der Bundesrat infolge Krieges dazu nicht mehr in der Lage, so wird die Sitzverlegung, die nur temporär und transitorisch sein soll, ipso iure rechtswirksam.
3. Schon vor Erlass des Sitzverlegungsbeschlusses wurde vom Politischen
Departement geprüft, welche Länder als Asylstaaten praktisch in Frage kommen könnten. Unsere Umfrage erstreckte sich auf Lateinamerika (unstabile politische Lage), die USA (kompliziertes Rechtssystem, Ungewissheit der künftigen Haltung des Kongresses, der sich nach amerikanischer
Konzeption an zeitlich vorausgegangene zwischenstaatliche Abmachungen nicht gebunden fühlt), Curaçao10 (Gefahr einer Loslösung vom Mutterland), Südafrika (Rassenproblem), Australien11 (allzu exzentrische geographische Lage) und Kanada12. Man gelangte zum Schluss, dass in Kanada die besten wirtschaftlichen, politischen, geographischen und juristischen
Voraussetzungen für die Aufnahme sitzverlegter schweizerischer Firmen vorliegen würden.
Da der Sitzverlegungsbeschluss naturgemäss auf die schweizerische
Rechtsordnung zugeschnitten wurde13, ist es erforderlich zu prüfen, inwiefern der gewünschte Erfolg im Rahmen der Rechtsordnung eines Asylstaates auch wirklich erreicht werden könnte. Wir sind zu diesem Zweck seit Ende 195714 an die kanadischen Behörden herangetreten und haben dort zwar viel Sympathie für unser Anliegen, aber bekanntlich auch gewisse Hemmungen angetroffen
(Präjudiz, Steuerfrage etc.). Es wäre uns daran gelegen, von Kanada, eventuell im Rahmen eines Notenwechsels, gewisse generelle Zusicherungen zu erhalten, dass den Zwecken unseres Sitzverlegungsgesetzes im Ernstfall von kanadischer
Seite Rechnung getragen würde. – Wir hoffen, spätestens im Herbst mit den zuständigen kanadischen Stellen Expertenbesprechungen in Ottawa aufnehmen zu können15. Unsere Anliegen sind: Anerkennung der Sitzverlegung ohne vorherige Liquidation und Reorganisation, Anerkennung des schweizerischen
Personalstatuts, Regelung gewisser Steueraspekte zwecks Vermeidung von
Doppelbesteuerung, wenn möglich gewisse Zusicherungen in Bezug auf eine künftige Feindsgutgesetzgebung.
Parallel dazu ist es gelungen, in Panama, durch Einflussnahme unseres
Honorarkonsuls16, der gleichzeitig Nestlé-Vertreter (Unilac) ist, den Erlass eines sog. Auffanggesetzes zu provozieren, das bewusst auf den schweizerischen
Sitzverlegungsbeschluss zugeschnitten wurde 16. – Ähnliche Bemühungen in
Curaçao haben noch nicht zum Ziele geführt.
4. Das Interesse für die Sitzverlegung scheint in den schweizerischen Wirtschaftskreisen vorderhand noch gering zu sein. Bisher liegen erst rund ein
Dutzend Anmeldungen vor, wobei als Asylstaaten Kanada (Nestlé u. a. m.),
Südafrika, Panama, USA, Curaçao (niederländ. Antillen) und Moçambique
(portug. Ostafrika) gewählt wurden. Im Falle einer Zuspitzung der internationalen Lage müsste aber wohl mit einer rapiden Zunahme der Anmeldungen gerechnet werden.