dodis.ch/30126
Der Vorsteher des Politischen Departements, F. T. Wahlen, an die schweizerische Botschaft in Washington1

Nachdem die drei neutralen EFTA-Staaten am 19. Oktober in Wien2 beschlossen haben, noch vor Jahresende ein Gesuch an die EWG um Aufnahme von Verhandlungen zu richten, gewinnt auch die amerikanische Haltung in der Integrationsfrage für uns an Bedeutung. Das schweizerische Verhandlungsziel wird darin bestehen, eine Assoziation in einer Form herbeizuführen, die eine möglichst intensive Beteiligung der Schweiz an der wirtschaftlichen Integration Europas erlaubt, gleichzeitig jedoch den unabdingbaren Erfordernissen unserer Neutralitätspolitik Rechnung trägt. Daneben hat die Schweiz noch eine Reihe wirtschaftlicher Interessen zu wahren, die jedoch von den neutralitätspolitischen Erfordernissen getrennt vorzubringen sein werden.

Da das schweizerische Verhandlungsgesuch voraussichtlich erst Mitte Dezember, d. h. nach Konsultation mit unsern EFTA-Partnern anlässlich der nächsten EFTA-Ministerratskonferenz vom 20./21. November in Genf3 und nach Konsultation des Parlamentes gestellt werden wird, erachten wir es vorderhand noch als verfrüht und unzweckmässig, Sondierungen bei der EWG über eine mögliche Regelung einzuleiten. Wir haben den Eindruck, dass das Problem der Neutralen noch keiner nähern Prüfung unterworfen ist und wir auch kein Interesse daran haben, eine Stellungnahme zu erzwingen, bevor die Verhandlungen mit Grossbritannien soweit fortgeschritten sind, dass eine Präjudizwirkung allfälliger Konzessionen der EWG gegenüber den Neutralen auf den Verlauf dieser Verhandlungen nicht mehr zu befürchten sein wird. Anderseits erachten wir es als wichtig, dass rechtzeitig durch eine aufklärende Informationstätigkeit unserer Botschaften das Klima für die Entgegen nahme des schweizerischen Verhandlungsgesuches günstig beeinflusst wird. Wir glauben, dass der richtige Zeitpunkt für eine derartige diplomatische Aktion anfangs Dezember kommen dürfte.

Wir sind der Auffassung, dass der schweizerische Neutralitätsstandpunkt mit Bezug auf die europäische Integrationsbewegung den interessierten Regierungen erst dann dargelegt werden sollte, wenn der Beginn der Verhandlungen vor der Türe steht. Auch scheint es uns besonders wichtig, dass die Präsentation nicht ausschliesslich negative Aspekte aufweisen wird, d. h. Neutralitätsvorbehalte, sondern gleichzeitig zum Ausdruck bringt, in welch beträchtlichem Umfang die Schweiz bereit ist, sich am Gemeinsamen Markt zu beteiligen und ihre Handels- und Wirtschaftspolitik mit derjenigen der EWG zu koordinieren. Aus dieser Überlegung haben wir es denn auch bisher vermieden, die grundlegenden Neutralitätserfordernisse, die in Form eines Arbeitspapiers von den Beamten der drei neutralen EFTA-Staaten formuliert4 und von den Ministern am 19. Oktober in Wien ausdrücklich genehmigt worden sind5, nach Aussen bekanntzugeben. Zu Ihrer persönlichen und streng vertraulichen Orientierung lassen wir Ihnen dieses Memorandum zugehen mit der Bitte, davon gegenüber Ihren amerikanischen Gesprächspartnern keinerlei Gebrauch zu machen.

Natürlich wären wir Ihnen schon jetzt dankbar, wenn Sie uns mitteilen würden, in welchem Sinne eine Informationstätigkeit der Neutralen zu gegebener Zeit bei der amerikanischen Regierung einsetzen sollte6. Aus unsern eigenen Gesprächen mit Dillon, George Ball und dem amerikanischen Botschafter in Bern7 sowie aus Ihren kürzlichen Berichten8 über die Besprechungen des österreichischen Bundesministers Bock und des Vertreters des französischen Aussenministeriums, Herrn Wormser, schliessen wir, dass die amerikanische Einstellung gegenüber den Neutralen vorderhand auf folgenden Thesen beruht:

1. Die USA unterstützen die politische Zielsetzung der EWG und erstreben die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Wer sich dieser Zielsetzung verschliesst, kann nicht mit der Sympathie Washingtons rechnen9.

Hierauf wäre zu erwidern, dass die Schweiz die politische Zielsetzung der EWG keineswegs bekämpft; im Gegenteil, wir freuen uns, dass auf diese Art jahrhundertealte Feindschaften ausgesöhnt werden und eine neue Basis für ein politisch geeinigtes Europa im Entstehen begriffen ist. Wir haben uns wiederholt öffentlich zu dieser positiven Auffassung bekannt. Die Notwendigkeit eines neutralen Staates, sich selber von einer derartigen politischen Zielsetzung zu distanzieren, bedeutet nicht, dass wir den Wert dieses Zieles nicht voll und ganz anerkennen oder seine Verwirklichung nicht herbeiwünschen10.

2. Die Vereinigten Staaten können die handelspolitische Diskriminierung der EWG nur solange akzeptieren, als diese durch politische Vorteile aufgewogen wird.

Dieses Argument sollte eigentlich dazu führen, dass die Vereinigten Staaten die Bemühungen von typischen Niederzoll-Ländern wie der Schweiz unterstützen, ihren eigenen Aussenzoll selbst bei einer Assoziation mit der EWG möglichst weitgehend beizubehalten. Die Schweiz, die pro Kopf der Bevölkerung im Jahr für ca. 300 Franken amerikanische Waren zu Zöllen, die weit unter denjenigen der gemeinsamen Aussentarife der EWG liegen, importiert, möchte nicht zu einer Diskriminierung der Drittstaaten im Falle einer Asso ziation mit der EWG gezwungen werden. Die Amerikaner sollten ein eminentes Interesse daran haben, dass liberale Kleinstaaten ihre Weltoffenheit erfolgreich verteidigen. Dieses Argument gilt aber auch mit Bezug auf unterentwickelte Länder, die mit der EWG nicht assoziiert sind, vor allem Lateinamerika. Die schweizerischen Zölle für tropische Rohstoffe sind durchwegs niedriger als die EWG-Zölle. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass eine Assoziationslösung im Sinne einer Freihandelszone den wirtschaftlichen Interessen Amerikas und der Entwicklungsländer am besten entsprechen würde.

3. Die Bedeutung der Neutralität ist in der gegenwärtigen Weltlage fraglich.

Vorerst wäre abzuklären, ob dieses Argument tatsächlich von offizieller amerikanischer Seite gebraucht wird, oder ob es sich nur um vereinzelte unverantwortliche Meinungsäusserungen handelt. Der amerikanische Botschafter in Bern bestreitet jedenfalls kategorisch, dass in Washington der Wert der schweizerischen Neutralität angezweifelt werde. Eine uns von der amerikanischen Botschaft vor einigen Wochen übergebene Notiz11, die wir Ihnen in der Beilage ebenfalls zugehen lassen, enthält denn auch unter Ziffer 3 eine entsprechende Zusicherung. Andererseits wird von den Brüsseler Funktionären sowie von französischer Seite uns gegenüber immer wieder angedeutet, die Amerikaner erachteten die schweizerische Neutralität als überholt.

Es ist durchaus richtig, dass durch die Verschiebung des Mächtegleichgewichts in Europa die geographische Bedeutung der schweizerischen Neutralität nicht mehr die gleiche ist wie vor dem zweiten Weltkrieg. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Neutralität als solche ihren Sinn verloren hätte. Im Gegenteil, durch die Verschärfung der Weltlage verstärkt sich das Bedürfnis, einige zuverlässige neutrale Staaten zu erhalten, die internationale Treuhänder- und Vermittlerfunktionen übernehmen können. Das Aufkommen immer zahlreicherer neutraler bzw. neutralistischer Staaten in Afrika, Asien und Südamerika, deren Neutralitätspraxis oft von den Spenden bzw. Affronts der Grossmächte bestimmt wird, sollte in Amerika die Erkenntnis für die Nützlichkeit eines Staates wecken, dessen Neutralitätspolitik auf Prinzipien und langer Tradition beruht und durch alle Wandlungen der Konstellationen unbeirrt durchgeführt wird. Die Schweiz kann daher einen einzigartigen Beitrag leisten, der bedeutungsvoller ist als der quantitative Beitrag, den sie durch einen Beitritt zu einem Bündnissystem erbringen würde.

Die Aufgabe der schweizerischen Neutralität würde die politische Konstellation Europas verändern und zu Spannungen führen, währenddem die Beibehaltung der Neutralität einen Beitrag zur Entspannung darstellt und jedenfalls die Westmächte in keiner Weise belastet. Da die schweizerische Neutralität eine wehrhafte ist, trägt sie zur Stärkung des europäischen Verteidigungspotentials bei. Unsere Militärausgaben belaufen sich auf 1 Milliarde Schweizerfranken pro Jahr, d. h. 1/3 unserer gesamten öffentlichen Ausgaben. Sie sind höher als diejenigen mancher NATO-Länder. Deshalb ist der im Europa gespräch gelegentlich gehörte Anwurf unberechtigt, wonach die Schweiz im Gegensatz zu den EWG-Ländern nicht bereit sei, Opfer zu bringen. Die Schlagkraft unserer Armee, die den topographischen Verhältnissen angepasst ist, würde durch den Beitritt zu einem Bündnissystem nicht erhöht sondern wesentlich herabgesetzt.

Im Übrigen ist die Neutralität als fundamentale Staatsmaxime ein unabdingbares Element des nationalen Gemeinschaftsgefühls des aus verschiedenen kulturellen Gruppen zusammengesetzten Schweizervolkes. Es ist uns ganz unverständlich, wie amerikanische Journalisten berichten können: «there is a growing feeling in Switzerland that its self-imposed neutrality is no longer realistic» (JanHasbrouck, New York Herald Tribune vom 27. Oktober 1961).

4. Eine rein wirtschaftliche Assoziation der Neutralen mit der EWG ist nicht unbedingt nötig, weil die OECD ein geeignetes Forum für die Wahrung der Interessen der aussenstehenden Drittstaaten bildet.

Diese Argumentation ist völlig illusorisch, weil die OECD (im Gegensatz zur OECE) mit nur beschränkten handelspolitischen Kompetenzen ausgestattet ist. Jedenfalls genügen sie kaum, um die Mitgliedstaaten der EWG dazu zu bringen, die diskriminatorischen Auswirkungen ihrer Zoll- und Wirtschaftsunion gegenüber den übrigen OECD-Staaten zu mildern. Eine Diskriminierung der Schweiz durch die EWG würde den Zielen der OECD diametral entgegenlaufen, indem unsere wirtschaftliche Stabilität erschüttert und damit auch die Möglichkeit der schweizerischen Teilnahme an der Entwicklungshilfe eingeschränkt würde. Wir haben bekanntlich diesen Gedanken bei Anlass der Ratifizierung der OECD-Konvention der amerikanischen Regierung gegenüber zum Ausdruck gebracht. Schliesslich kann die Situation Amerikas gegenüber der EWG mit derjenigen der Schweiz in keiner Weise verglichen werden. Die Schweiz gewinnt beinahe 13% ihres Nationalproduktes aus den Ausfuhren nach dem durch die europäischen Nato-Länder erweiterten EWG-Raum. Amerikas Ausfuhren nach der EWG und der EFTA machen hingegen weniger als 1% seines Nationalproduktes aus. Deshalb mögen die beschränkten Möglichkeiten der OECD die vergleichsweise recht geringen Probleme Amerikas lösen, nicht aber diejenigen der Schweiz.

5. Weshalb wollen die drei neutralen Staaten gemeinsam vorgehen? Während in europäischen (vor allem französischen und italienischen) Kreisen gelegentlich der Gedanke ausgesprochen wird, die Schweiz als europäischstes Land stelle einen Sonderfall dar12, der berücksichtigt werden müsse und dessen Lösung durch Verkoppelung mit peripheren Staaten wie Österreich und Schweden erschwert würde, scheint man in Amerika im Gegenteil aus politischen Gründen dem Sonderfall Österreich mehr Verständnis entgegenzubringen als der Schweiz und Schweden13. Andererseits stellt die Schweiz für das politisch belastete Österreich ein Alibi dar und auch der Anschluss Finnlands an einen erweiterten Gemeinsamen Markt wird über die Brücke der neutralen Staaten leichter bewerkstelligt werden können. Aus diesen Überlegungen rechtfertigt sich ein koordiniertes Vorgehen der neutralen EFTA-Staaten mit Bezug auf die besonderen Probleme, die sich aus dem Neutralitätsstatus bei der Regelung des Verhältnisses zur EWG ergeben werden. Diese Koordination bezieht sich vorderhand jedoch lediglich auf die Gleichzeitigkeit des Verhandlungsgesuches; die Frage des Verhandlungsverfahrens ist noch völlig offen.

Voraussetzung für diese Koordination war das Ergebnis der kürzlich in Genf und Wien zwischen den drei neutralen EFTA-Staaten geführten Besprechungen14. Diese Gespräche haben spontan zur Feststellung geführt, dass die unabdingbaren neutralitätspolitischen Erfordernisse, über die nicht verhandelt werden kann, von den drei Staaten in gleicher Weise gesehen werden, obschon ihre Neutralität einen verschiedenen historischen Ursprung hat. Die Schweiz wird der EWG gegenüber natürlich das Wesen ihrer Neutralitätspolitik und ihrer Sonderstellung auf ihre eigene Weise darlegen, um jede Gefahr einer Verwässerung der schweizerischen Konzeption durch ein gemeinsames Vorgehen mit den anderen europäischen Neutralen zu vermeiden.

Wenn wir unsere Gegenargumente in dieser ausführlichen Weise darlegen, geschieht dies nicht in der Absicht, Sie schon im jetzigen Zeitpunkt zu einer Intervention bei den amerikanischen Behörden zu veranlassen. Wir legen jedoch grossen Wert darauf, unsere Überlegungen mit Ihnen genau abzustimmen und würden gerne wissen, wie Sie die Wirksamkeit unserer Argumentation für ein Gespräch mit den Amerikanern beurteilen. Bei Anlass der Fortsetzung der Konsultationen zwischen den drei neutralen EFTA-Staaten auf Beam tenebene, die nächste Woche vom 7. bis 11. November in Stockholm stattfinden werden15, ist nämlich beabsichtigt, auch die Koordinierung der Informationstätigkeit in den Vereinigten Staaten zu diskutieren. Wir wären Ihnen daher dankbar, wenn Sie unserer Delegation nach Stockholm telegraphisch Ihre Ansicht über das zweckmässigste Vorgehen während der nächsten Monate bekanntgeben würden; insbesondere inwieweit Ihnen eine Koordination mit Ihren schwedischen und österreichischen Kollegen bei allfälligen Demarchen im Staatsdepartement nützlich erscheint. Auch wird sich die Frage stellen, ob wir uns auf eine diplomatische Aktion beschränken oder versuchen sollten, eine breitere Öffentlichkeit, sei es durch Vorträge oder Presseartikel, anzusprechen. Auch über die Methoden der Informationstätigkeit würden wir daher gerne Ihre Ansicht kennen. Ferner stellt sich die Frage, welche Regierungskreise eine diplomatische Aktion erfassen könnte, insbesondere ob die Möglichkeit bestehen würde, neben dem Staatsdepartement auch gewisse Kongressmitglieder und Persönlichkeiten, die dem Weissen Haus nahestehen, zu orientieren. Wir sind uns bewusst, dass das EFTA-Informationsbüro in Washington nützliche Arbeit leistet und seine Dienste könnten von den Neutralen natürlich auch in Anspruch genommen werden. Wie beurteilen Sie die grundsätzliche Frage, ob eine besondere Unterstützung des Standpunktes der Neutralen durch das EFTA-Büro unserer Sache dienlich wäre oder wegen der eher negativen Einstellung Washingtons gegenüber der EFTA sich zu einer Belastung auswirken könnte?16

P. S. Eine andere Frage ist natürlich die, ob es vom Standpunkt aller EFTA-Staaten zulässig ist, das gemeinsam von allen Partnern finanzierte Büro für die Zwecke eines einzelnen Landes oder einer Gruppe in Anspruch zu nehmen.

1
Schreiben: E 2200.36(-)1976/154/133.
2
Zur Vorbereitung dieses Treffens vgl. den Bericht Bemerkungen zum Bericht der Genfer Beamtentagung über den Stand der Arbeiten von P. R. Jolles an H. Homberger vom 16. Oktober 1961 (dodis.ch/30125).
3
Vgl. das BR-Prot. Nr. 2100 Réunion du Conseil des Ministres de l’Association européenne de libre-échange les 20 et 21 novembre 1961 à Genève vom 15. November 1961, E 1004.1 (-)-/1/655.
4
Dieser undatierte Progress Report ist ein Anhang zum Schreiben von Jolles an die Mit glieder der Ständigen Wirtschaftsdelegation vom 16. Oktober 1961, E 7111(B)1972/168/266.Für eine Zusammenfassung dieses Arbeitspapiers vgl. das Communiqué der Handelsabteilung des Volkswirtschaftsdepartements vom 21. Oktober 1961, E 2804(-)1971/2/105.
5
Zu dieser Anerkennung vgl. das Schreiben Entscheidung der Minister der neutralen EFTA-Länder vom 19. Oktober 1961, E 7111(B)1972/168/266, und das entsprechende Pressecommuniqué zur Minister-Tagung der neutralen EFTA-Staaten vom 20. Oktober 1961, ibid.
6
Die schweizerische Botschaft in Washington antwortete mit einem am 7. November 1961 von A. R. Lindt unterschriebenen Telegramm (Nr. 393), das die wichtigsten Ergebnisse der Unterredungen zwischen F. Figgures und Vertretern des amerikanischen State Departments darstellte. Vgl. E 2001(E)1976/17/206.
7
R. M. McKinney.
8
Nicht ermittelt.
9
Handschriftliche Anmerkung: désintéressement, argument.
10
Handschriftliche Anmerkung: Est-ce tout à fait compatible avec une politique de neutralité?
11
Nicht ermittelt.
12
Handschriftliche Anmerkung: anerkannt.
13
Handschriftliche Anmerkung: richtig.
14
Vgl. Anm. 1.
15
Vgl. Anm. 2.
16
Zur Stellungnahme der schweizerischen Botschaft in Washington vgl. E 2200.36 (-)1976/154/136 –138.