dodis.ch/30181
Notiz des Vorstehers des Politischen Departements, F. T. Wahlen1

Gespräch mit Herrn Bundesminister Kreisky vom 10. Februar 1962

Auf wiederholten Wunsch Kreiskys, wir möchten uns irgendwo im schweizerisch-österreichischen Grenzgebiet zu einem Gespräch unter vier Augen treffen, willigte ich im Einvernehmen mit dem Bundesrat ein. Um auf beidseitigen Wunsch jedes Aufsehen zu vermeiden, wurde er am Flughafen Kloten nur von Herrn Botschafter Tursky abgeholt, und wir trafen uns zu einem Gespräch in einem kleinen zürcherischen Landgasthof.

Bei der Ankunft sagte mir K. er hätte sich doch verpflichtet gefühlt, den Bundeskanzler2 zu orientieren. Dieser habe seinerseits die Information an einen Vertrauensmann weitergegeben, mit dem Resultat, dass die Presse davon Kenntnis erhielt. K. hätte sich dann verpflichtet gefühlt, Herrn Minister Gunnar Lange zu orientieren, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, als ob hinter dem Rücken der Schweden Gespräche geführt werden. Ein weiteres Beispiel dafür, wie schwierig es ist, mit unseren Partnern Diskretion zu üben!

Das Gespräch dauerte etwa 3 Stunden. K. sprach nach seiner Gewohnheit sehr viel und kam oft auf die gleichen Fragen zurück. Ich fasse seine Anliegen unter wenigen Stichworten zusammen, ohne mich an den Gang des Gesprächs zu halten.

1. Verhältnis Österreichs (und Finnlands) zur Sowjetunion.

K. kam auf die sowjetische Note nach Übergabe des Schreibens an die EWG am 15. Dezember3 und die österreichische Antwort zurück. Offenbar wurde diese als befriedigend entgegengenommen. Seither hätten öftere Kontakte zwischen ihm und dem russischen Botschafter in Wien stattgefunden, wie es überhaupt sein Bestreben sei, sich periodisch mit seinen engsten Mitarbeitern, mit dem russischen Botschafter und seinem diplomatischen Personal zu treffen. Letzthin habe ihm der russische Botschafter eher spasshaft die Bemerkung gemacht, die EWG sei nicht ewig. Die Differenzen zwischen den Hauptmächten werden sich bald so akut zeigen, dass sie auseinanderfalle, und am Schluss werde nichts übrig bleiben als Deutschland und das mit ihm assoziierte Österreich. Die Furcht vor einem «Anschluss» in irgendeiner Form komme immer wieder zum Vorschein. K. glaubt deshalb, er, d. h. Österreich, sei verpflichtet, immer wieder positive Vorschläge zu machen. Er sprach von der Wiederbelebung der Donau-Schiffahrt zugunsten der im Unterlauf befindlichen russischen Satelliten und sogar vom Projekt des Oder-Donau-Kanals, beides Projekte, welche die Österreichische Frachtsituation gleichzeitig verbessern würden.

Im Übrigen glaubt er Anhaltspunkte dafür zu besitzen, dass das Comecon in langsamer Desintegration begriffen sei. Jedenfalls hätten die neuesten österreichischen Handelsvertragsverhandlungen mit Rumänien und Polen erkennen lassen, dass man sich in diesen beiden Ländern nicht mehr strikte an die das Comecon beherrschenden Grundsätze der staatlichen Handelspolitik halte. Darum auch sein Vorschlag in Helsinki, die ECE vermehrt in die Ost-West-Gespräche einzuschalten. Die Russen hätten diesen Vorschlag sehr gut aufgenommen und lieben es überhaupt, mit ihm von paneuropäischer Zusammenarbeit zu sprechen.

Ich habe natürlich nicht verfehlt, Herrn K. auf unsere Bedenken zu diesem Vorschlag aufmerksam zu machen. Wie wir uns seinerzeit dagegen wehrten, die OECD oder das GATT zum Gesprächsforum über europäische Integrationsfragen vom Standpunkt der Neutralen zu machen, so würden wir das auch im Bezug auf die ECE und gegenüber allfälligen Versuchen, uns auf den Kennedy-Plan abschieben zu lassen, halten.

K. kommt dann in längeren Ausführungen auf Finnland zu sprechen. Er betont, dass man in Moskau grosse Befürchtungen gegen die rechtsstehenden Sozialisten (Gruppe Tanner) hegt, gibt einige Eindrücke von der Unterredung Kruschtschew-Kekkonen in Novosibirsk wieder und spricht die Vermutung aus, dass Kekkonen bei dieser Gelegenheit dem russischen Begehren auf Einbezug des finnischen Radarnetzes in gemeinsame Verteidigungspläne stattgab. Ich hatte das Gefühl, dass alle diese Ausführungen im wesentlichen daraufzielten, die Rede Kreiskys in Helsinki zu rechtfertigen, wie er das übrigens auch in Österreich selbst tun musste. Daneben ist natürlich nicht zu bestreiten, dass Österreich einen Weg suchen muss, um mit Russland annehmbare Beziehungen zu unterhalten. En passant erwähnt Kreisky, dass man in Österreich den schweizerischen Diskussionen über den Osthandel4 verständnislos gegenüberstehe.

2. Die österreichische innenpolitische Situation.

K. legte grossen Wert darauf zu erklären, dass die drei Parteien schon jetzt im Vorfeld der im Oktober stattfindenden Wahlen stehen, wobei die Integrationsfrage eine grosse Rolle spielt. Da die beiden Koalitionsparteien fast kräftegleich sind, kann man sagen, dass es auf beiden Seiten tatsächlich um die Eroberung von 1–2 Sitzen geht.

K. kommt dann auf die Stellung von Handelsminister Bock zu sprechen. Er sei eigentlich aus dem Arbeiter- und Angestelltenbund herausgewachsen und empfinde nun ein doppeltes Bedürfnis, sich als Industrievertreter auszuweisen. Die sogenannte «kleine Lösung» des Integrationsproblems, die von Bock in Brüssel vorgetragen worden war, sei als ein Wahlschlager von dieser Seite zu betrachten. Sowohl die Helsinki-Rede Kreiskys wie namentlich Bocks Brüsseler-Rede sind demnach vorwiegend Ausflüsse der Innenpolitik. Sie zeigen aufs neue die Schwäche der Partnerschaft der Neutralen und sind uns eine Mahnung in der Fixierung einer gemeinsamen Haltung nach aussen Mass zu üben.

3. Verhandlungsgrundlagen und Prozedurfragen.

K. legte Wert darauf zu betonen, dass er nicht für die «kleine», sondern für die «grosse» Lösung eintrete, ist aber eher unbestimmt, sobald man auf Details eintritt. Zweifellos sind die Österreicher gegenüber uns in der Vorbereitung von Verhandlungsgrundlagen im Rückstand.

Auch in der Prozedur spielt der Wahltermin eine Rolle. K. sieht trotz einer gewissen Bekümmertheit um die Termine ein, dass die Verhandlungen nicht vor April aufgenommen werden können, und dass wir an den Fortschritt der englischen Negoziationen gebunden sind. Die Rückfrage bei den sechs EWG-Ländern entsprang nicht seiner eigenen Initiative, sondern musste unter dem Druck ungeduldiger Industriekreise vorgenommen werden. Er tendiert immer noch auf eine einheitliche Präsentation des Neutralitätsstandpunkts der drei Länder, gibt aber zu, dass Initiativen wie diejenige Bocks ein Hindernis darstellen können. Auf meine Frage, was Österreich tun würde, wenn die EWG in Verfolgung der von Seeliger vorgeschlagenen Prozedur Österreich zu informellen Besprechungen über die «kleine Lösung» einladen würde, sagt K., dass für ihn eine solche Initiative grosse Schwierigkeiten schaffen würde. Ich warne ihn im Übrigen im Bezug auf die Sondierungen Seeligers und er stimmt zu, dass die Präsentation des Gesamtstandpunktes nach englischem Muster vorzuziehen wäre.

Für den Fall eines Echecs der Verhandlungen der drei Neutralen, spricht er von einer gemeinsamen Assoziation inklusive Finnland; etwa die Lösung also, von der wir hier als Rumpf-EFTA gesprochen haben. Ich gebe zu, dass das in extremis eine Lösung sein könnte, warne aber davor, im jetzigen Stadium von dieser wie von jeder andern Alternativlösung zu sprechen.

K. sagte mir dann, in Wien werde das Gerücht herumgeboten, der Bundesrat hätte eigentlich das Interesse an einer Assoziation verloren und gebe sich völlig damit zufrieden, auf die Verwirklichung des Kennedy-Planes zu warten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Gerüchte, an die u. a. auch Kanzler Gorbach glauben soll, in Umlauf gesetzt wurden, um das Abweichen Bocks von der gemeinsam vereinbarten Linie zu entschuldigen oder zu beschönigen. Ich war denn auch in meiner Antwort besonders bestimmt.

4. Verbesserung des Verständnisses für die Neutralen.

K. zeigte sich besonders enttäuscht über die Haltung der europäischen Sozialisten, von Spaak und Birkelbach, über die Redner im europäischen Parlament und im Europarat. Spaak soll nun innerhalb seiner eigenen Partei Schwierigkeiten haben. Die wallonischen Sozialisten sind von jeher gegen den Beitritt Belgiens zur NATO gewesen und leiden allgemein an Neutralitätsheimweh. Ein grosser Teil der übrigen Partei begreift nicht, dass Spaak die Stellung der neutralen Länder erschwert, in denen die Sozialisten entweder Regierungspartei oder regierungsbeteiligt sind. Er spricht intensiven Kontakten das Wort: «Die sozialistischen Parlamentarier der drei Neutralen sollten einen gemeinsamen Stoss ins sozialistische Lager der EWG führen.» Im Bezug auf die Beeinflussung der breiten öffentlichen Meinung in Europa und den USA schliesst sich K. nach längerer Diskussion dem Standpunkt an, den wir an der Botschafterkonferenz5 herausgearbeitet haben.

Österreich beschäftigt in den USA einen Public relations Spezialisten. Er bietet mir seine Dienste an, wobei keineswegs an eine Mittragung der Kosten gedacht werde.

K. fragt mich, ob die Schweiz etwas dagegen einzuwenden hätte, wenn Jean Monnet zu einem Vortrag nach Wien eingeladen und mit grossen Ehren empfangen würde. Ich erhebe keine Einwendungen.

Ferner spricht er intensiven Kontakten mit der unmittelbaren Umgebung von Kennedy, eventuell mit dem Präsidenten selbst das Wort. Er nennt dabei Bundy, Millikan, Rostow und denkt als geeigneten Verbindungsmann an Professor Haberler. Ferner regt er die Einladung von Kommissionen des Senats und des Kongresses der USA sowie von Gruppen von Redaktoren an. Endlich, und das ist einer der Hauptpunkte, schlägt er vor, dass entweder durch ihn oder durch mich ein Artikel in «Foreign affairs» geschrieben werden sollte, um die Neutralität mit allen erfolgversprechenden Argumenten aufzuwerten. Er betont, dass diese Aufgabe keineswegs durch Schweden übernommen werden könne, da die Schweden seit der Ursprungszeit der NATO in Washington einem gewissen Ressentiment begegnen. Alle diese Fragen sollten nach Ansicht von K. anlässlich der Genfer Konferenz unter den Neutralen besprochen werden. Wir verständigen uns in dem Sinne, dass ein kleiner Publizitäts- oder Werbeausschuss den ganzen Fragenkomplex zuhanden der Beamten und der Minister vorbesprechen sollte.

5. UNO-Anleihe.

Ich frage K. was Österreich hinsichtlich der Zeichnung von UN-Bonds zu tun gedenke. Er sagt, dass für die österreichische Regierung eine Beteiligung eine Selbstverständlichkeit sei, dass aber weder über die Höhe noch die Art der Zeichnung endgültig Beschluss gefasst wurde.

6. Arbeitskonferenz mit Bundeskanzler Gorbach.

Auf meine Frage, was Herr Gorbach voraussichtlich zu behandeln wünsche, sagt K., dass es sich nur um Allgemeinheiten handeln könne, wobei natürlich das Integrationsproblem im Vordergrund stehe6. Er bittet dringlich, Herrn Gorbach davon zu überzeugen, dass die Schweiz nicht beabsichtigt, sich von der gemeinsamen Linie zugunsten eines Wartens auf die Realisierung des Kennedy-Planes zurückzuziehen. Es wird wesentlich sein, dass wir auch den Versuch machen, ihm die Aussichtslosigkeit der «kleinen Lösung» zu demonstrieren und ihn auf die gemeinsame Linie sowohl hinsichtlich der Prozedur wie der Verhandlungsgrundlagen zu verpflichten.

1
E 2804(-)1971/2/73. Kopien dieser Notiz gingen an H. Schaffner, P. Micheli, E. Stopper, P. R. Jolles und H. von Fischer.
2
A. Gorbach.
3
Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 34, dodis.ch/30143.
4
Vgl. Nr. 44, Anm. 4, in diesem Band.
5
Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 42, dodis.ch/30179.
6
Handschriftliche Anmerkung am Rand: Auszug im Dossier Integration.