dodis.ch/30223
Der schweizerische Botschafter in Washington, A. R. Lindt, an das Politische Departement1

Geheim

Assistant secretary Tyler3 sagte mir soeben, dass er bestrebt sei, mich mit grösster Offenheit über die Lage zu informieren, da die schweizerische Regierung auf Grund ihrer Aufgaben in Kuba darauf Anspruch habe4. Er bat seine Angaben als geheim zu behandeln.

1. Die amerikanischen Luftaufnahmen ergaben nicht nur, dass die Arbeiten an den Basen weitergeführt werden, sondern zeigen auch Vorkehren, die sich nur so deuten lassen, dass die Missiles operationsbereit gemacht würden.

2. Die Lage zeichnet sich heute durch ein schwerwiegendes Dilemma aus. Auf der einen Seite möchte Amerika vermeiden, Chruschtschew in eine Lage zu manövrieren, die ihn menschlicher Voraussicht nach zum Gegenschlage zwingt, anderseits kann Amerika es nicht zulassen, tatenlos in einer Lage zu verharren, die grösste militärische und politische Risiken in sich schliesst. Militärisch: das ganze Sicherheitssystem der NATO ist in Frage gestellt. Die Verwundbarkeit Amerikas ist vielfältig gesteigert. Im Falle eines Abschiessens der Missiles aus Kuba ist die Zeit für die Warnung praktisch auf ein nichts reduziert. Politisch: das Vertrauen der europäischen Alliierten in die Möglichkeit Amerikas, sie zu schützen, wird untergraben.

3. Aus diesem Dilemma ergibt sich folgendes: Amerika ist zu Verhandlungen bereit, nicht aber gewillt, diese in die Länge ziehen zu lassen. Denn dies würde der Sowjetunion erlauben, ihre Basen weiter auszubauen, der Appell U Thants5 arbeitete in die Hände der Russen, indem er amerikanische Blockade und rus sische Zufuhr auf die gleiche Ebene stellte. Er geht am wesentlichen vorbei – der Unmöglichkeit Amerikas zu dulden, dass die russischen Basen weiter aus gebaut werden. Ein erster Schritt auf dem Verhandlungsweg, der eine vorläufige Entspannung bringen würde, wäre dieser: die Einstellung aller Arbeiten an den Basen in Kuba. Stevenson ist soeben beauftragt worden, diesen Punkt U Thant klarzumachen. Der zweite Schritt aber müsste darin liegen, durch Kontrolle und Inspektion sicherzustellen, dass die Missiles entladen würden und in diesem Zustand verblieben. Es ist schwer zu sagen, welchen Gegenpreis Amerika für die russische Zustimmung zu diesem Vorschlag zahlen könnte. Eine Aufgabe amerikanischer Basen, z. B. in der Türkei, würde mit Bestimmtheit zu einer Vertrauenskrise, wenigstens in diesem Lande, dann aber auch in Italien und in Deutschland, führen. Jeder Preis aber, der eine Zersetzung der westlichen Allianz bedingt, wäre nicht annehmbar.

4. Für diese schwierigen diplomatischen Schritte steht wenig Zeit zur Verfügung. Frage: wie lang? Antwort: einige Tage.

5. X. rechnet bestimmt im Falle eines amerikanischen Vorgehens mit einer anerischen [sic] 6 russischen Reaktion. Er glaubt, dass Moskau nur insoweit überrascht worden ist, als es mit einer langsameren amerikanischen Massnahme gerechnet hätte, würden die russischen Basen in Kuba von Amerika durch konventionelle Bomben zerstört, würde wahrscheinlich Moskau mit der Zerstörung durch konventionelle Waffen alliierter Basen, z. B. in der Türkei, antworten. Es ist schwer zu glauben, dass dann nicht die NATO-Verteidigungsverpflichtung in Funktion treten müsste.

6. Das Staatsdepartement ist beunruhigt, dass in Europa die Schwere der Krise nicht verstanden wird, die Hauptstädte Westeuropas scheinen sich allzu stark von der scheinbaren Mässigung Chruschtschews und den Vorgängen in den Vereinigten Nationen einlullen lassen.

7. Schliesslich machte X. eine Anspielung, die in Zusammenhang mit dem stehen kann, was ich Ihnen in meinem 306 mitgeteilt habe7. Kuba, sagte X., hat jede politische Bedeutung verloren. Schliesslich sind die Basen nicht in kubanischen sondern in russischen Händen.

1
E 2001(E)1976/17/394.
2
Im Original auf 26.10.1962 datiert.
3
W. R. Tyler.
4
Die Schweiz vertrat die Interessen der USA in Kuba seit dem 6. Januar 1961. Vgl. DDS, Bd. 21, Dok. 116, dodis.ch/15005(dodis.ch/15005). Siehe dazu auch Nrn. 121, 141 und 164 in diesem Band sowie die Notiz von D. Rusk an A. R. Lindt vom 8. November 1962 (dodis.ch/30389) und das Schreiben von E. Stadelhofer an F. T. Wahlen vom 21. März 1963 (dodis.ch/18949).
5
Appell vom 24. Oktober 1962.
6
Wahrscheinlich: energischen.
7
Vgl. das Telegramm von Lindt an Wahlen vom 22. Oktober 1962, nicht abgedruckt. Siehe auch DDS, Bd. 22, Dok. 106, dodis.ch/19007.