dodis.ch/35755 Notiz für den Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements, E. Brugger1

OSTHANDELSBEZIEHUNGEN (FÜR SITZUNG DER NATIONALRÄTLICHEN AUSSENWIRTSCHAFTSKOMMISSION, 14. NOVEMBER IN ZÜRICH)2

1. Allgemeines

Der Osthandel, um den es nach der Periode des «kalten Krieges» eine Zeitlang still geworden geworden war3, beginnt wieder vermehrt in den Vordergrund zu treten4.

Einerseits macht sich auch in schweizerischen Wirtschaftskreisen, an geregt durch die allgemeine Annäherung zwischen Ost und West (Moskaureise Präsident Nixons5 samt wirtschaftspolitischen Auswirkungen, spektakuläre Geschäftsabschlüsse zwischen westlichen Firmen und östlichen Partnern, bevorstehende europäische Sicherheitskonferenz, etc.), ein durchaus verständliches wachsendes Interesse am Austausch mit Osteuropa merkbar. Man möchte sich geeignete Ausgangspositionen schaffen, um an der mutmasslichen künftigen Expansion dieser potentiellen Märkte angemessen teilnehmen zu können. Gewisse – nicht sehr zahlreiche – Leute erwarten hier sogar einen eigentlichen Boom.

Auf der andern Seite wird aber auch Besorgnis und Kritik laut. Dem Bundesrat wird unterschoben, den – übrigens sehr temperierten – Missmut Moskaus wegen unseres Freihandelsabkommens mit der EWG6 durch eine «hektische Betriebsamkeit» gegenüber dem Osten ausgleichen zu wollen. Erst dieser Tage wieder hat Herr Schwarzenbach, wie die Presse berichtet, die Behauptung wiederholt, dass der Vertrag zu einer wirtschaftlichen Hinwendung der Schweiz zum Osten führe (NZZ vom 4. November betr. Ablehnung des EWG-Abkommens durch die Republikanische Bewegung).

Weder übertriebene Erwartungen noch machiavellistische Verdächtigungen sind jedoch angebracht. In Wirklichkeit verhalten sich die Dinge viel einfacher und viel nüchterner.

2. Osthandelsanteil

Volumenmässig ist das Ausmass des Osthandels immer noch bescheiden7. Allzu viele Hindernisse stehen ihm entgegen, so vor allem die schwer überwindbaren Systemunterschiede zwischen unserer freien Marktwirtschaft und dem planwirtschaftlichen Staatshandel der Oststaaten. Dazu kommt, dass das Angebot aus dem Osten unseren Qualitätsvorstellungen oft nicht entspricht, die Lieferkapazität nicht ausreicht u. a. m. Den Importen sind dadurch recht enge Grenzen gesetzt, die so bald kaum überwunden werden können. Aber auch auf der Exportseite ist, obwohl der Osten namentlich unserer Investitionsgüter bedarf, ein spektakuläres Anwachsen nicht zu erwarten. Dies verhindert schon die chronische Devisenknappheit der betreffenden Länder.

Ein Blick auf die Zahlen bestätigt diese Verhältnisse. So beliefen sich unsere Importe aus den wirtschaftlich im COMECON zusammengeschlossenen Ostblockstaaten 1971 auf rund 600 Mio. Fr. und unsere Exporte auf 900 Mio. Fr. Dazu kommt unser Handelsverkehr mit dem Sonderfall Jugoslawien, welches eine Art «sozialistischer Marktwirtschaft» betreibt; hier verzeichneten wir Importe von rund 100 Mio. und Exporte von 300 Mio. Zusammengerechnet ergab sich auf diese Weise 1971 ein Gesamtvolumen unseres Austausches mit Osteuropa von ungefähr 2 Milliarden Fr., was weniger als 4% unseres gesamten Aussenhandelsvolumens nach allen Ländern der Welt ausmachte. Die bisher bekannten Zahlen für 1972 halten sich ungefähr in der gleichen Relation. Anteilmässig liegen wir damit eher unter dem Osthandels-Durchschnitt der wichtigsten anderen westlichen Industriestaaten. Den Anteil unseres Handels mit Osteuropa aus der Vorkriegszeit haben wir noch nicht einmal zur Hälfte wieder erreicht. Auf jeden Fall hält sich das gegenwärtige Wachstum des schweizerischen Osthandels durchaus im Rahmen der regelmässigen Ausweitung unseres Austausches mit den übrigen Teilen der Welt.

3. Wirtschaftspolitische Zielsetzung

Was wir, von dieser Basis ausgehend, für die Zukunft erstreben, ist, auf eine einfache, undramatische Formel gebracht, mit den Staatshandelsländern ein möglichst geordnetes handelspolitisches Verhältnis, wie es sich im Laufe der Jahre herausgebildet hat, weiterzuführen.

Bisher beruhte dieses Verhältnis zum grösseren Teil auf Handels- und Zahlungsabkommen, die vor rund zwei Jahrzehnten bilateral mit den einzelnen ost europäischen Staatshandelsländern abgeschlossen worden waren. Charakteristisch für diese Abkommen war vor allem die Regelung des gebundenen Zahlungsverkehrs, der uns dazu diente, die Zahlungsmittel für unsere eigenen Exporte sicherzustellen und die Abgeltung der uns seitens der Oststaaten geschuldeten Nationalisierungsentschädigungen durch Abspaltung aus dem Clearing zu gewährleisten. Beides ist heute überholt. Da unser Handel mit dem Osten gesamthaft stark aktiv geworden ist, sind die Oststaaten ohnehin schon genötigt, in sehr erheblichem Ausmass Devisen einzuschiessen. Was unsere Entschädigungsforderungen anbelangt, so sind sie ihrerseits schon seit einiger Zeit abgetragen. (Es flossen den schweizerischen Geschädigten auf diese Weise aus dem Osten 285 Mio. Franken zu.) Es bestand also kein wesentlicher Grund mehr, den gebundenen Zahlungsverkehr, der unserer liberalen Auffassung zuwiderläuft und auf den praktisch alle wichtigen Industriestaaten gegenüber dem Osten schon seit einiger Zeit verzichtet haben, unserseits aufrecht zu erhalten.

4. Wirtschaftsverhandlungen

Diese Entwicklung veranlasste uns, das Clearing mit Jugoslawien schon 1969 aufzuheben8 und sodann 1970, also vor Beginn der Verhandlungen mit den Europäischen Gemeinschaften und gänzlich unabhängig davon, mit den übrigen, eigentlichen Satellitenstaaten auf deren Wunsch in Verhandlung über eine Modernisierung der alten Vertragsinstrumente einzutreten9. Von einem Kausalzusammenhang zwischen Ostverhandlungen und Freihandelsabkommen kann also keine Rede sein.

In einem Falle, der Tschechoslowakei, ist ein neues Abkommen schon im Mai 1971 abgeschlossen worden10. Es hat sich seither gut bewährt11. Mit Bulgarien, Rumänien und Ungarn steht der Abschluss bevor und mit Polen gehen die Verhandlungen weiter12. Mit dem kürzlich geäusserten Wunsch der DDR nach Aufhebung des von uns in ihrem Falle autonom gehandhabten Clearing13 werden wir uns in gegebener Zeit befassen.

Die neuen Verträge sollen uns, parallel zur Abschaffung des Clearing, eine bessere Sicherung bedeutsamer schweizerischer Belange unter den so andersgestaltigen östlichen Voraussetzungen bieten. Wir sorgen beispielsweise dafür, dass die Struktur unserer Exporte nach Möglichkeit gewahrt bleibt, also neben unseren Investitionsgütern auch die schweizerischen Konsumwaren, die ansonst beim Fehlen eines freien Marktes im Osten vernachlässigt würden, ebenfalls zum Zuge kommen. Auf der Importseite sollen die Oststaaten, da dort die Preisbildung nicht an marktwirtschaftliche Kriterien gebunden ist, bei ihren Lieferungen zu grösserer Preisdisziplin, also zur Unterlassung von Dumpingpraktiken, veranlasst werden. Ferner ist u. a. sicherzustellen, dass die Finanzzahlungen nach der Schweiz ohne Clearing keine Schlechterstellung erfahren.

Einen Sonderfall bildet schliesslich die Sowjetunion, mit der seit 1948 ein weiterhin gültiges Handelsabkommen14 des klassischen Meistbegünstigungstyps (ohne Clearing) besteht. Seit einiger Zeit sind Bemühung im Gang, ergänzend dazu eine «Gemischte Kommission für wirtschaftliche Kooperation» zu schaffen15. Die Konstituierung würde zwar durch Briefwechsel zwischen Behördenvertretern vorgenommen; Trägerin auf schweizerischer Seite und effektive Partnerin des zuständigen sowjetischen Staatskomitees wäre aber angesichts unserer rein privatwirtschaftlichen Struktur eine zu diesem Zweck ins Leben gerufene «Interessengemeinschaft Schweiz-Sowjetunion»16. Die hiefür vorbereiteten Texte stehen zurzeit in Moskau, wo unsere anders geartete Konzeption offenbar etwas Mühe bereitet, in Prüfung. Wir erwarten von der Regelung eine vermehrte Berücksichtigung der kommerziellen Komponente und einen verbesserten, zentralen Zugang für schweizerische Interessenten zu den ungezählten für Aussenhandel und Industrie massgebenden Stellen des gewaltigen bürokratischen Moskauer Apparats.

Auch diese neuen Instrumente werden im Osthandel indessen keine Wunder bewirken. Dies wird von uns auch gar nicht angestrebt. Worum es uns geht, ist aber, unseren – bescheidenen Anteil an den Ostmärkten zu sichern, uns daraus durch unsere heute so eifrigen westlichen Konkurrenten nicht verdrängen zu lassen und, im Sinne unserer traditionellen Rolle als Welthandelsnation, auch mit dem Osten, auf reziproker Basis, eine kontinuierliche Entwicklung zu wahren. Dies erscheint durchaus legitim und verantwortbar.

5. Europäische Sicherheitskonferenz

Schliesslich sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, dass die Europäische Sicherheitskonferenz, für die am 22. November in Helsinki Präliminarkonsultationen beginnen17 und die im Juni 1973 zusammentreten soll, einen «volet économique»18 aufweisen wird. Worin er bestehen soll, ist allgemein in Ost und West noch unklar. Das schweizerische Bestreben wird gegebenenfalls im wesentlichen dahin gehen müssen, für eine effektive, nicht nur eine formale Reziprozität im gegenseitigen Handel, für einen vermehrte direkten Zugang zu östlichen Märkten und für eine bessere Berücksichtigung unserer Konsumgüter, kurz, für einen ausgewogenen Wirtschaftsaustausch zu sorgen.

1
Notiz (Kopie): CH-BAR#E7110#1983/13#38*(229.7). Verfasst und unterzeichnet von R. Probst. Kopien an P. R. Jolles, A. Hasler, K. Fröhlicher, L. Roches, A. Bürki, R. Kummer und J.- L. Rey.
2
Vgl. dazu das Protokoll vom 22. November 1972 der Sitzung der Aussenwirtschaftskommission des Nationalrats vom 14. November 1972, CH-BAR#E1050.15#1995/516#10*. Die Frage der Osthandelsbeziehungen wurde an der Sitzung nicht erörtert.
3
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 36, dodis.ch/35399.
4
Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 135, dodis.ch/33630, und DDS, Bd. 25, Dok. 58, dodis.ch/35754.
5
Zum Besuch R. Nixons in der UdSSR vom 22. bis 30. Mai und zur Unterzeichnung der USsowjetischen Abrüstungsabkommen in Moskau vgl. das Exposé von P. Graber vom 31. August 1972, dodis.ch/34605 sowie Doss. CH-BAR#E2001E-01#1982/58#1280* (B.22.52).
6
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 82, dodis.ch/35535, Punkt 4; Dok. 175, dodis.ch/35676, Punkt 6 sowie das Exposé von R. Probst vom 1. September 1972, dodis.ch/34609.
7
Zu einer Entwicklung des Warenaustausches mit den Oststaaten vgl. die Tabelle von R. Wyder vom 29. Januar 1971, dodis.ch/35846.
8
Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 20, dodis.ch/32396, bes. Anm. 6.
9
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 58, dodis.ch/35754.
10
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 157, dodis.ch/34496, Anm. 17.
11
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 175, dodis.ch/35676, Punkt 5.
12
Zu Bulgarien vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 157, dodis.ch/34496, Anm. 39; zu Rumänien DDS, Bd. 25, Dok. 167, dodis.ch/35687, Anm. 2; zu Ungarn DDS, Bd. 25, Dok. 157, dodis.ch/34496, Anm. 34 und zu Polen vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 170, dodis.ch/35678. Allgemein zum Stand der Osthandelsbeziehungen vgl. die Notiz von R. Probst an E. Thalmann vom 13. Juni 1972, dodis.ch/35843.
13
Vgl. dazu dazu das Schreiben von P. R. Jolles an H. Kaufmann vom 20. Dezember 1972, dodis.ch/34381.
14
Handelsvertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Union der Sozia listischen Sowjetrepubliken vom 17. März 1948, AS, 1948, S. 371–379. Vgl. dazu DDS, Bd. 17, Dok. 65, dodis.ch/4021.
15
Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 104, dodis.ch/35620, bes. Anm. 17.
16
Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 48, dodis.ch/32688.
17
Zur Präliminarkonferenz in Helsinki vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 173, dodis.ch/34487, Anm. 17.
18
Zu den wirtschaftlichen Aspekten der europäischen Sicherheitskonferenz vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 174, dodis.ch/34571, Punkt I.