dodis.ch/43124
Der schweizerische Gesandte in London, G. Carlin, an den ehemaligen Direktor der Gotthardbahn, H. Dietler1

Ich habe mit lebhaftem Interesse von dem Inhalte Ihres Briefes v. 21. v. Mts.2 Kenntnis genommen und stimme Ihren treffenden und weitsichtigen Ausführungen vollständig bei.

Um so mehr bin ich bemüht, Ihnen zur Verwirklichung Ihrer Pläne behülflich zu sein. Aber die Schwierigkeiten sind ausserordentlich gross.

Gleich nach seiner Rückkehr aus der Schweiz habe ich, letzten Samstag, den 26. Februar, die Sache mit Herrn Direktor L. Rueff3 besprochen. Er teilt meine Ansicht, dass hier unter den gegenwärtigen Verhältnissen von schweizerischer Seite nichts getan werden kann.

Wie Sie wissen, ist die Bagdadbahn ein deutsches Unternehmen. Seit mehr als einem Jahrzehnt suchen die Reichsregierung und die Deutsche Bank, fremde, hauptsächlich englische und französische Kapitalien für die Sache zu gewinnen. Es ist ihnen dies bisher nicht im erwünschten Masse gelungen und zwar hauptsächlich wegen des - gerechtfertigten oder ungerechtfertigten - Widerstands der britischen Regierung. Dieser Widerstand entspringt politischen Rücksichten und es hat von deutscher Seite an Anstrengungen aller Arten nicht gefehlt, um ihn zu beseitigen. So hat jüngst noch Sir E. Cassel in Berlin mit der Deutschen Bank konferiert. Viel scheint indessen auch dabei nicht herausgekommen zu sein. Jedenfalls kann ich mich hierüber bei Sir E. Cassel nicht erkundigen, da er gegenwärtig in Egypt en weilt.

Wie dem auch sei, die Frage ist, wie gesagt, auf das politische Gebiet übergegangen, und jede interessierte Grossmacht hat dazu Stellung genommen, wie aus den Äusserungen der kompetenten Staatsmänner im britischen und französischen Parlament hervorgeht. Frankreich will sich offenbar auch in dieser Sache Grossbritannien gefällig erweisen, und Russland hat, nachdem es mit England zu einem allgemeinen Einverständniss gekommen ist, keine Veranlassung, Opposition gegen die britische Haltung zu machen.

Unter diesen Umständen scheint es mir ganz ausgeschlossen, dass die Schweiz sich einmischen könnte. Anders stünde es, wenn die Angelegenheit intakt wäre und es sich darum handelte, unter den Auspizien eines so hervorragenden Fachmannes wie Sie, das Unternehmen erst zu lancieren. Da könnte eingegriffen werden. Zu einer Intervention wäre auch Veranlassung, wenn die Parteien zu der Überzeugung gekommen wären, dass sie sich von sich aus nicht einigen können und, um das Werk zu retten, sich selbst an eine unparteiische Macht wenden oder ein Schiedsgericht oder eine internationale Konferenz anrufen würden.

So liegen die Verhältnisse aber nicht. Nach reiflicher Überlegung meine ich deshalb, dass Sie etwa folgendermassen vorgehen könnten:

Alle Fäden laufen bei der Deutschen Bank in Berlin zusammen. Dort könnten Sie am besten über den Stand der Angelegenheit unterrichtet werden und dort dürften Sie am geeignetsten Ihre Anregung anbringen, die gewiss, da sie von Ihnen herkommt, der Sie eines grossen Rufes als gewesener Leiter einer internationalen Bahn geniessen, mit aller Sorgfalt geprüft würde. Und um mit der Deutschen Bank in Berührung zu kommen, würden sie sich wohl am besten an die schweizerische Kreditanstalt in Zürich wenden, die, wie bekannt, rege Beziehungen zu der Deutschen Bank unterhält.

In der Hoffnung, dass Ihnen die vorstehenden Ausführungen, in Ermangelung einer direkteren Dienstleistung meinerseits, von einigem Nutzen sein werden, beehre ich mich, sehr verehrter Herr, Sie erneuert meiner vorzüglichen Hochachtung und Ergebenheit zu versichern.

1
(Kopie): E 2300 London, Archiv-Nr. 7.
2
Am 21. Februar 1910 wandte sich Dietler bereits zum vierten Mal in dieser Sache an Carlin: [...] Gegenwärtig ist eine Strecke von ca 800 km über den zilizischen Taurus im Bau od. wenigstens vergeben. Bis zum persischen Meerbusen sind es noch ca 1300 km, und die Fortsetzung von diesem bis zum Anschluss an das bestehende indische Eisenbahnnetz erfordert ca 2300 km. Zum Vergleich bemerke ich, dass das Netz der Schweiz. Bundesbahnen 2738 km umfasst. Es springt daher sofort in die Augen, welche Belebung der europäischen Industrie aus der einzig von ihr zu beziehenden Masse von Schienen, Lokomotiven und Wagen resultieren würde. Ohne Zweifel würden die subventionierenden Staaten die Lieferung im Verhältnis ihrer Subventionen unter sich verteilen. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Bedeutung ist darauf aufmerksam zu machen, dass jeder Eisenbahnstrang einer wirtschaftlichen Eroberung gleichkommt. Nun sind die Länder, welche in Betracht fallen, die Wiege menschlicher Kultur gewesen. Indien zählt über 300 Millionen Menschen. Erst durch die Bahn wird die offene Thür zu denselben geschaffen. Die Schiffahrt allein genügt nicht. Letztere wird dadurch auch nicht lahmgelegt, da ihr immer solche Transporte gehören werden, welche keine rasche, dafür aber eine billige Beförderung verlangen. Die Schiffahrt auf dem Rhein ist nicht zurückgegangen seit Eisenbahnen auf seinen beiden Ufern ihn umgürten. Schon in meinem ersten Briefe habe ich auf die Konkurrenz mit Amerika hingewiesen. Die amerikanische Gefahr besteht nur dann, wenn Europa zurückbleibt, wenn gegenüber dem geschlossenen nordamerikanischen Staat, die europäischen Staaten sich nicht zu gemeinsamen Unternehmungen zu verbinden verstehen. Das Projekt der Fortsetzung der Bagdadbahn als Küstenbahn nach Indien, welches bei mir selbständig entstanden ist, ist gleichwohl nicht neu. Andere haben dasselbe schon vorher ausgedacht. Neu ist dagegen der Gedanke seiner Durchführung auf Grund einer europäischen Konferenz, etwa wie diejenige, welche zur Entstehung des Congostaates geführt hat. Auch ist heute der Zeitpunkt der gegebene, in welchem die orientalischen Völkerschaften sich zu neuer Kulturarbeit aufraffen. Soeben lese ich auch, dass England in Persien sich das Recht erworben hat, Eisenbahnen zu bauen. So erscheint der Boden durchaus vorbereitet für eine energische Aktion (E 2300London, Archiv-Nr. 7).
3
Direktor der London er Filiale des Schweizerischen Bankvereins.