Der Staatsbesuch von Bundespräsident Walter Scheel in Begleitung von Bundesaussenminister Hans-Dietrich Genscher vom 22. bis 23. September 1977 in Bern2 löste in den schweizerischen Massenmedien ein breites Echo aus. Insgesamt über 200 Zeitungsartikel sowie zahlreiche Reportagen an Radio und Fernsehen berichteten fast ausnahmslos in positivem Grundtone über die Gäste, wobei dem Stand der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland besondere Aufmerksamkeit eingeräumt wurde3.
Praktisch alle Kommentare weisen darauf hin, dass heute das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz problemlos ist, was auch die beiden Bundespräsidenten in ihren Reden4 ausdrücklich erwähnten. Henri Stranner schreibt dazu in der Basler Zeitung: «Bonn und Bern haben sich gern ... Es ist keine Schönfärberei, wenn man gute Beziehungen zwischen Bern und Bonn feststellt. Die Bundesrepublik hat immer sehr viel Verständnis gezeigt für die Anliegen des kleinen südlichen Nachbarn5 ... Sehr zu begrüssen ist natürlich der gestern in Bern gefasste Beschluss, zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik regelmässig einmal im Jahr Gespräche auf Aussenministerebene zu führen. Damit unterstreichen beide Länder, welch grossen Stellenwert sie dem freundnachbarlichen Gespräch einräumen. Wie sich die Zeiten ändern ...» Der Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, Fred Luchsinger, meint hiezu: «Ein Staatsbesuch ist in der Regel nicht dazu da, Probleme zu lösen. In diesem Fall markiert er vielmehr, dass es keine gibt, jedenfalls nicht auf einer Ebene, auf der politische Höchstinstanzen bemüht werden müssten. Das nachbarliche Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft hat sich in den 28 Jahren, in denen es den neuen demokratischen deutschen Staat gibt – doppelt so lang wie die Republik von Weimar –, günstig und im ganzen gesehen reibungslos zu guter Partnerschaft entwickelt. Der Besuch des deutschen Bundespräsidenten bedeutet eine weitere Besiegelung dieses erfreulichen Zustandes, dem man Dauer wünscht.»
Einige Journalisten sehen in den deutschen Gästen Scheel und Genscher die Verkörperung des «anderen Deutschland», so der freisinnige Schaffhauser Nationalrat Erwin Waldvogel in den Schaffhauser Nachrichten: «Bundespräsident Scheel ist die Gelassenheit in Person. Es ist, selbst in angespannten Situationen, eine Heiterkeit um ihn, die nicht gespielt und aufgesetzt ist. Man hat sie schon dem Naturell des Rheinländers, der er ist, (und dem Rheinwein) gutgeschrieben. Die fast undeutsche ‹Leichtigkeit›, mit der er sein Amt ausübt, hat natürlich mit Natur und Anlage zu tun. Sowie sie ‹gemacht› ist, ist sie wissentlich und mit Absicht gemacht: als Zeugnis und als Demonstration wider die weitverbreitete Vorstellung vom ‹deutschen Wesen›, das, in Variationen und mehr oder weniger verbindlich für ein ganzes Volk, zeitweilig schon wichtig und wuchtig, machtgebietend und machtlüstern auftrat – nicht allein zu Hitlers Zeiten. Scheel tritt nicht nur auf, sondern wirkt glaubwürdig als Gegenbeispiel, als Repräsentant des ‹andern Deutschland›, des verträglichen und freundnachbarlichen, des heiteren und des ‹geistigen Deutschland›. Er vertritt das ‹geistige› Deutschland nicht nur, er hat auch eine Affinität zu ihm... Die deutschen Staatsgäste seien willkomen als Zeugen eines wiedergefundenen, guten Verhältnisses zum deutschen Nachbarn, das für uns ganz besonders wichtig und erfreulich ist.»
Die für schweizerische Verhältnisse ungewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der deutschen Staatsgäste rufen zahlreiche nachdenklich gestimmte Kommentare hervor. Peter Studer vertritt im Tages Anzeiger die Ansicht: «Das war keine Begegnung mehr, das war eine Demonstration. Dafür, dass Terrorismus die bundesdeutsche Staatsroutine nicht aus den Angeln hebt6: Konnte Kanzler Schmidt schon nicht nach Polen reisen, weil er den Krisenstab leitete, so mochte Scheel immerhin die Schweiz besuchen. Normalität sollte demonstriert werden; doch gerade sie wurde von den Scharen ziviler und uniformierter Leibwächter aus zwei Nationen überdeckt. Auf Dächer lauerten sie, an Autobahnausfahrten kauerten sie, in Pressekonferenzen besetzten sie die Stuhlreihen.»
«Dieser Zustand lässt jedoch ahnen, womit wir rechen müssen, wenn Terrorismus und Anarchie weiter eskalieren und auch auf den Hort übergreifen, wo sich die sieben höchsten Magistraten ungeniert und frei in den Gassen und Lokalen der Bundesstadt bewegen7,» vermerkt die Solothurner Zeitung. Frank A. Meyer zieht einen historisch-politischen Vergleich zwischen den beiden Ländern: «Die Schweiz, das Land, das Scheel und Genscher mit ihrer sicherheitspolitisch brisanten Präsenz beehren, ist anders beschaffen als die Bundesrepublik. Sie hat zwar auch Vergangenheit aufzuarbeiten und tut sich schwer damit. Doch hierzulande war Terror nie Regime. In Deutschland war er es. Was die Terroristen heute in der Bundesrepublik unternehmen: die Vernichtung von Menschen, die sie zu Todfeinden auserkoren haben, das war 12 Jahre lang (von 1933 bis 1945) in Deutschland rechtens. Umgebracht wurden Millionen. Die Menschenverachtung – der sich auch die Terroristen des Jahres 1977 verschrieben haben – war Staatsdoktrin ... Diese Vergangenheit hat die Schweiz nicht. Sie hat auch eine andere Erfahrung mit der Demokratie. Darin liegt ein Schutz vor politischen Perversionen, den keinerlei Polizeiaufgebot wettmachen kann. Passieren kann wohl etwas. Aber Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher besuchen heute ein Land, das nicht aus purem Zufall noch kein Terroristen-Land ist.» (Basler Zeitung). Beat Müller teilt diese etwas selbstgerechte Meinung nicht, wenn er in der Solothurner Zeitung schreibt: «Ich glaube, wir Schweizer haben in diesen Tagen allen Grund, uns mit unseren Nachbarn im Norden solidarisch zu fühlen, denn der internationale Terrorismus ist keine deutsche Erfindung und macht auch an der deutsch-schweizerischen Grenze nicht Halt, was angesichts des zurzeit laufenden Prozesses in Winterthur8 nicht näher belegt zu werden braucht. Nationale Vorurteile sind angesichts der Verhältnisse heute am allerwenigsten am Platz. Es bleibt zu hoffen, dass der Besuch Walter Scheels dazu beiträgt, sie auf beiden Seiten weiter abzubauen.»
Die zwischen den Delegationen erörterte Frage eines schweizerischen UNO-Beitritts9 und der anlässlich der Pressekonferenz von Aussenminister Genscher ausgesprochene Wunsch, die Schweiz möge zwecks Bereicherung der UNO dieser Organisation beitreten, hat kein grosses Echo ausgelöst. Die Basler Zeitung kommentiert: «So würde es die Bonner Regierung unter anderem gerne sehen, wenn die Schweiz bald einmal die relativ kleine Gruppe der demokratisch-marktwirtschaftlich orientierten Staaten in der UNO verstärken würde. Dieser Wink sollte in unserem Land nicht als Einmischung empfunden, sondern als berechtigter Appell an unser Solidaritätsgefühl betrachtet werden.» Das Lausanner Blatt 24 heures titelt seinen Beitrag: M Genscher: «Soyez les bienvenus à l'ONU,» und die Tribune de Lausanne: Walter Scheel à la Suisse: «Adhérez à l'ONU!»
Während laut Zeitungsberichten auf der offiziellen Ebene eine Art «entente cordiale» herrscht, kann davon im Empfinden unseres Volkes gegenüber dem nördlichen Nachbarn nicht immer gesprochen werden. Alois Hartmann meint im Vaterland, den Schweizer bewegten in dieser Hinsicht unzweifelhaft «veränderliche Gefühle». Die Solothurner Zeitung geht auf dieses völkerpsychologische Problem näher ein: «Wir Schweizer haben ohne Zweifel ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zu unseren nördlichen Nachbarn. Das hängt wohl in erster Linie damit zusammen, dass uns, zumindest uns Deutschschweizer, eine gemeinsame Schriftsprache mit den Deutschen verbindet, ja mit den unmittelbaren Nachbarn am nördlichen Rheinufer gar die gemeinsame alemannische Herkunft. Wir bewundern insgeheim der Deutschen Tüchtigkeit, ihre Redegewandtheit, ihr Selbstvertrauen. Als tüchtig schätzen wir uns selber in der Regel zwar auch ein, doch redegewandt sind wir meist schon weniger, und das uns mitunter beinahe penetrant betont anmutende Selbstvertrauen der Deutschen läuft unserem nationalen Empfinden zuwider. Wir schätzen an den Deutschen, wenn wir nach Klischeevorstellungen denken und handeln, am wenigsten ihre sogenannte Zackigkeit, ihre Begeisterungsfähigkeit, die sie als Nation schon bis an den Rand des Abgrunds geführt hat, ihre Kaltschnäuzigkit und noch so manch anderes mehr. Kurz: Wir machen uns ein Bild von den Deutschen, das zwischen Bewunderung und Abneigung schwankt.»
Ein deutscher Beobachter sieht das Verhältnis der beiden benachbarten Völker wie folgt: «Die Beziehungen zwischen Deutschen und Schweizern, die in der Vergangenheit immer wieder zwischen Zusammengehörigkeitsgefühl und misstrauischer Abneigung geschwankt haben, haben sich entkrampft, sind sachlicher, wenn auch noch nicht gerade herzlich geworden.» (Wolfram van den Wyenbergh in der Frankfurter Allgemeinen).
Hans Martin Schmid warnt im Berner Bund vor der in letzter Zeit häufig laut gewordenen übertriebenen Kritik an der Bundesrepublik Deutschland im westlichen Ausland und schliesst seinen Kommentar mit den Worten: «Die Schweizer Presse, nicht zuletzt dieses Blatt, war unter den ersten Stimmen, die vor der braunen Gefahr warnten. Das gibt uns – glaube ich – die Verpflichtung, uns um das, was in Deutschland und um Deutschland, was im Namen der deutschen Sprache geschieht, ganz besonders zu kümmern. Und das gibt uns das Recht, vor den Gefahren einer Übertreibung in der andern Richtung zu warnen. Davon hat der westdeutsche Bundespräsident hoffentlich etwas zu spüren bekommen. So sehr uns viele Deutsche als Einzelpersonen oder in Gruppen in gewissen Attitüden dann und wann Mühe machen, die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes ist und bleibt, wie es unser Deutschland-Korrespondent Hermann Schlapp einmal formulierte, ‹der beste deutsche Nachbar, den wir je hatten.› Und es ist sehr, sehr fraglich, ob wir, sollte diese zweite Demokratie auf deutschem Boden scheitern, je einen bessern bekommen werden.»