dodis.ch/56177Notiz des Generalsekretärs des EDA, Schaller1

Besprechung mit Bernard Bertossa, Generalstaatsanwalt des Kantons Genf2

Vertraulich

Auf meine Anregung hin empfängt mich Herr Bertossa (B) zu einem Gedankenaustausch über das von ihm ins Auge gefasste Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit der Entführung der beiden IKRK-Mitarbeiter Christen und Erriquez.3 Ich bin von André Pasquier (P) begleitet, Chef des ehemaligen IKRK-Krisenstabes.

B[ertossa] meint im Verlaufe des Gesprächs u. a., «quelques actes en relations avec cet enlèvement se sont passés à Genève», «les victimes sont des Suisses». Deshalb sei er entschlossen, «de faire ce qui est possible de faire». Er gedenke polizeiliche Ermittlungen anstellen zu lassen und über deren Ergebnisse die Öffentlichkeit zu informieren. Kriminelle Akte dürften nicht unverfolgt bleiben. Auch gelte es abzuklären, ob allenfalls Auslieferungsgesuche zu stellen oder verdächtigte Ausländer (z. B. Libanesen) bei ihrer Einreise in die Schweiz zu verhaften seien. Alles in allem wolle er den Eindruck vermeiden «qu’on est des dupes».

P[asquier] schildert seine Bemühungen zur Freilassung der Geiseln. Ich gehe auf diejenigen von Bundesseite ein. Wir weisen beide B[ertossa] auf die Gefahren hin, welche die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, resp. ihr Bekanntwerden in den einschlägigen Kreisen allenfalls mit sich bringen könnten: erhöhtes Sicherheitsrisiko für IKRK-Mitarbeiter im Libanon, Infragestellung von Bemühungen zur Freilassung weiterer Geiseln, Auswirkungen auf gewisse internationale Beziehungen (z. B. Schweiz-Iran-USA),4 Abnahme der Bereitschaft ausländischer Sicherheitsdienste, mit ihren Genfer oder Berner Kollegen zusammenzuarbeiten. P[asquier] macht keinen Hehl daraus, dass die Einleitung einer Untersuchung bei den meisten seiner ehemaligen Gesprächspartner wahrscheinlich als Provokation empfunden würde.

B[ertossa] hört sich unsere Argumente zwar an, scheint dafür aber nicht übermässiges Verständnis aufzubringen. Für ihn ist offensichtlich am wichtigsten, wie er den Medien erklären könne, er habe nichts unternommen, um Licht in die Entführung und ihre Hintergründe zu bringen.

Nach weiteren Hinweisen auf die internationale Gepflogenheiten in solchen Geiselaffären (unseres Wissens hat kein betroffenes Land bisher Verfahren gegen unbekannte Entführer eingeleitet) und dezenten Anspielungen auf die Art und Weise, wie eine Genfer Aktion interpretiert werden könnte, zeigt B[ertossa] Zeichen des Einlenkens. Er verspricht nachzudenken, «ce qu’il me faut pour justifier que je ne fais rien»... Unter Umständen könne er zu einem solchen Schluss kommen, wenn ihm Einblick gegeben werde ins Einvernahmerprotokoll der Bundespolizei, das diese nach ihren Gesprächen mit Christen und Erriquez erstellt hat.5

Wir gingen auseinander ohne konkrete Absprachen über das weitere Vorgehen. Aller Voraussicht nach wird B[ertossa] als nächstes erneut der Bundespolizei resp. dem Bundesanwalt6 schreiben.

P. S. Mein Fazit:

Wir haben es hier mit einem in höchstem Grade idealistisch veranlagten Menschen zu tun, der – vielleicht auch etwas ideologisch verklärt – über einen überraschend engen Horizont zu verfügen scheint, wenn es um das Erkennen und Gewichten von internationalen Implikationen geht, die eine Affäre mit sich bringt, die gewisse – wenn auch nicht ganz offensichtliche – Bezüge zu Genf aufweist. Unter Umständen wird der Bund nicht darum herumkommen, die Existenz übergeordneter nationaler Interessen – je nach Entwicklung der Aktivitäten von B[ertossa] – nochmals und diesmal deutlicher und abschliessender zur Geltung zu bringen, um einen ambitiösen lokalen Einzelgang zu verhindern, der – weniger national als – international in beträchtlichem Mass Geschirr zu zerschlagen vermag und ausserdem die zukünftige Tätigkeit des IKRK gefährden könnte.

1
CH-BAR#E2010A#2001/161#4190* (B.32.32.Liban). Dieses Exemplar der Notiz von Rudolf Schaller wurde vom Chef der Politischen Abteilung II des EDA, Botschafter Pierre-Yves Simonin, visiert und mit zahlreichen Textmarkierungen versehen. Weitere Kopien waren gerichtet an den Generalsekretär des EJPD, Samuel Burckhardt, mit der Bitte Bundespräsident Arnold Koller zu informieren, an Bundesanwalt Willy Padrutt mit der Bitte seine Mitarbeiter Hans-Rudolf Knaus und Christian Duc ins Bild zu setzen sowie an den Vorsteher des EDA, Bundesrat René Felber, und an den stv. Chef der Politischen Abteilung II, François Chappuis.
2
Handschriftliche Marginalie von Botschafter Simonin: Otages. Enquête Genève.
3
Am 6. Oktober 1989 wurden zwei schweizerische Angehörige einer IKRK-Delegation im Südlibanon, die Orthopädisten Emanuel Christen und Elio Erriquez, entführt. Nach weltweiten intensiven diplomatischen Bemühungen des IKRK mit Unterstützung des EDA wurden sie schliesslich im August 1990 freigelassen. Bis zuletzt konnte die Identität der Entführer nicht ermittelt werden, vgl. dazu die Zusammenstellung dodis.ch/C1777.
4
Zum Stand der Vertretung der US-amerikanischen Interessen im Iran durch die Schweiz und zur Frage einer konzertierten Befreiungsaktion aller im Zusammenhang mit dem Libanonkonflikt festgehaltenen Geiseln vgl. die Zusammenstellung dodis.ch/C1817.
5
Der Genfer Staatsanwalt Bertossa wurde anschliessend von der Bundespolizei eingehend über die ersten Angaben nach der Freilassung von Christen und Erriquez zu ihrer Entführung und Geiselhaft, den Verlauf der Bemühungen von IKRK und Bundesbehörden für ihre Befreiung sowie zur Frage weiterer Ermittlungen informiert, vgl. dodis.ch/56176.
6
Willy Padrutt.