Der Empfang Li Pengs, dessen Delegation auch der Aussenminister Qian Quichen und der Aussenwirtschafts- und Handelsminister Li Langing angehörten, löste in Politikerkreisen, in der schweizerischen Öffentlichkeit und in den Massenmedien ein beträchtliches Echo aus und sorgte auch für negative Schlagzeilen.2 Der allenthalben gehörte Vorwurf, die Schweiz verhelfe damit dem Hauptverantwortlichen des Tienanmen-Massakers3 zu internationaler Respektabilität ist nicht berechtigt, da Li Peng zunächst in Italien auf höchster Ebene empfangen wurde, und nach einem Abstecher nach New York zur Teilnahme an einer Tagung des UNO-Sicherheitsrates, auch Portugal und Spanien einen offiziellen Besuch abstatten wird. In New York wird er sich u. a. mit Präsident Bush treffen.4
Die ca. zweistündigen Gespräche, in deren Zentrum Menschenrechtsfragen standen und auch einen Meinungsaustausch über die internationale Lage nach Auflösung der Sowjetunion, die schweizerische Europapolitik sowie bilaterale Wirtschaftsfragen umfassten, können als offen und konstruktiv bezeichnet werden.
Bundespräsident Felber wies eingangs auf die politische und kulturelle Vielfältigkeit der Schweiz hin, was zur Etablierung einer politischen Kultur führte, innerhalb derer die Respektierung der Rechte von Minderheiten und der Menschenrechte eine zentrale Bedeutung für den Bestand unseres Landes besitzt.5 Die Schweiz hege jedoch keine Absichten, unser politisches System zu exportieren.
Li Peng unterstrich die Bedeutung des Dialogs, wobei ideologische und politische Unterschiede kein Hindernis dazu bilden sollten. Er sei zur Erörterung von Menschenrechtsfragen bereit.
BRF [Bundespräsident Felber] bedankt sich, dass im vergangenen Dezember eine offizielle Delegation von Experten in Menschenrechtsfragen China besuchen konnte und gibt der Hoffnung Ausdruck, dass der begonnene Dialog fortgesetzt werden kann.6 In vielen Ländern würden die Menschenrechte verletzt, die Schweiz führt in diesen Fragen nicht allein mit China einen Dialog. BRF übergibt eine Liste von 27 exemplarischen Fällen, welche die Expertendelegation bereits im Dezember überreicht hatte und wünscht detaillierte Auskunft über das Schicksal der Betroffenen und eine Lösung dieser Fälle.7 Er drückt seine Genugtuung über die kurz vor Antritt der Reise Li Pengs erfolgte Freilassung von 9 Inhaftierten aus.
Li Peng spricht sich dafür aus, dass die Menschenrechte universell respektiert werden müssten. Allerdings müssten auch historischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Unterschieden Rechnung getragen werden (es gibt unterschiedliche Kriterien). Für ein Entwicklungsland wie China mit einer Bevölkerung von über 1 Mia. stehen die Existenz des Staates, die wirtschaftliche Entwicklung und die Unabhängigkeit im Vordergrund. Inhaltlich gibt es eine reichhaltige Palette von Menschenrechten. Neben den politischen Rechten gebe es bspw. auch das Recht auf Unabhängigkeit, Entwicklung, die Gleichheit zwischen Mann und Frau, Rechte der Kinder, etc. In dieser Hinsicht wie auch im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung sei China vorbildlich. Die übergebene Liste werde er den zuständigen Gerichtsinstanzen weiterleiten. Allerdings verhalte es sich so, dass vielfach die Angaben zur Identität der aufgeführten Personen ungenügend seien, was die Nachforschungen sehr erschweren würden. Li Peng unterstreicht, dass die in die Wege geleitete Politik der Reformen und der Öffnung nicht nur die Wirtschaft betreffe, damit einher gehe ein Ausbau der Demokratie auf «sozialistischer» Grundlage.
BRF erwidert, dass es grundlegende universell anerkannte Menschenrechte gibt, die zu respektieren seien. Er gibt dem Wunsche Ausdruck, dass diese Rechte in der Gesetzgebung sämtlicher Staaten, inklusive China, enthalten sein müssten.
Li Peng unterstreicht, dass es auch nach Eintritt der Entspannung eine grosse Anzahl von (neuen) Konfliktherden gibt. Der Zerfall der UdSSR habe zur Folge, dass aus einer Nuklearmacht 4 Atomwaffenstaaten entstanden sind.8 Europa, das nach dem 2. Weltkrieg eine Periode von relativer Stabilität gekannt habe, werde heute von Konflikten und Spannungen heimgesucht. Die Wirtschaftslage in der GUS und in Mitteleuropa werde ein Flüchtlingsproblem schaffen. Die Konfliktsituation im Mittleren Osten harre weiterhin einer Lösung.9 Aus der Sicht Chinas sei es gefährlich, dass es heute nur noch 1 Supermacht gebe.
Die politische Lage in China hingegen sei heute stabil, die Wirtschaft entwickle sich befriedigend. Eine stabile Entwicklung sei ein wichtiger Beitrag zum Frieden. Die Zusammenarbeit zwischen China und der Schweiz ist noch entwicklungsfähig.
BRF [Bundespräsident Felber] legt die schweizerische Politik gegenüber Osteuropa dar, wo der Akzent auf die (Wirtschafts)Reformen gelegt würde.10 Die atomare Bedrohung müsse durch einen Dialog mit den fraglichen Staaten unter Kontrolle gebracht werden. BRF drückt seine Genugtuung über die Absicht Chinas aus, den Nonproliferationsvertrag zu unterzeichnen.11 Er spricht auch die aus der Umweltzerstörung erwachsende globale Gefahr an und überreicht Li Peng eine Speaking Note betr. die Aushandlung einer Konvention über die Klimaveränderungen.12
A) Europäische Integration
Bundesrat Delamuraz legt die schweizerische Politik im Bereiche der europäischen Integration dar und unterstreicht, dass letztere nicht auf Kosten unserer universellen Wirtschaftsbeziehungen gehen werde. Die Schweiz wird weiterhin mit allen Staaten der Erde zusammenarbeiten, dies gelte auch für China.
B) Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen
Bundesrat Delamuraz beurteilt die Entwicklung des bilateralen Handelsaustausches als sehr positiv. Der sich 1991 auf 240 Mio. Fr. belaufende Handelsbilanzüberschuss zugunsten Chinas gebe nicht zur Beunruhigung Anlass, solange dem Import schweizerischer Waren nach China (namentlich für Uhren und Textilien) keine allzu grossen Hindernisse in den Weg gelegt werden.13 Die schweizerische Industrie sei bereit, in China zu investieren. Das «Joint-Venture» von Schindler sei die erste ausländische Investition im Industriesektor gewesen.14 Das zwischen beiden Staaten abgeschlossene Vertragsnetz zur Intensivierung der bilateralen Wirtschaftsbeziehung ist praktisch vollständig. An den Privaten liege es, diesen Verträgen mehr Substanz zu geben. Delamuraz bekundet15 schliesslich die Absicht, im Sommer 1992 China erstmals an der Spitze einer Delegation von Vertretern der Industrie zu besuchen.16
Aussenwirtschaftsminister Li Langing verweist darauf, dass das schweizerisch-chinesische Handelsvolumen 1991 gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von 40% erfahren habe.17 Es wäre für die Schweiz ein Leichtes, das bestehende Handelsdefizit auszugleichen. China benötige fortschrittliche schweizerische Technologie. Ein Hindernis bilde die CoCom-Regelung, die heute nach dem Zerfall der WAPA und der UdSSR keine Existenzberechtigung mehr habe.18 Er wies auf kommende Einkaufsmissionen Chinas in die Schweiz – dies vor allem auch im Uhrenbereich – hin.19
Li Langing bringt schliesslich den festen Willen seiner Regierung zum Ausdruck, dem GATT wieder beizutreten. Dieser Wiedereintritt sei angesichts des bedeutenden chinesischen Aussenhandels gerechtfertigt und liege auf der Linie der von China verfolgten Politik der Öffnung. China sei bereit, sämtliche sich aus der GATT-Mitgliedschaft ergebenden Verpflichtungen zu übernehmen. In Bezug auf den von Taiwan beabsichtigten Beitritt verfolge sein Land eine realistische Politik: Taiwan könne als separates Zollgebiet beitreten, jedoch habe dies nach dem Beitritt seines Landes zu geschehen.20 Bundesrat Delamuraz weist darauf hin, dass unser Land den GATT-Beitritt Chinas begrüsst und unterstützt. Chinas Handelspolitik müsse jedoch den Bestimmungen des GATT-Rechtes entsprechen.21 Die kürzlich beschlossene Konvertibilität der chinesischen Währung sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.