Unter der Leitung des Bundespräsidenten Adolf Ogi (O.) empfing am 5. April 1993 eine Delegation des Bundesrates, der auch die Herren Jean-Pascal Delamuraz (D.) und Flavio Cotti (C.) angehörten, den britischen Premierminister John Major (M.) in Bern zu einem Arbeitsbesuch.3 Nachfolgend werden die einzelnen Gesprächsthemen, welche im Verlaufe der Nachmittagssitzung sowie während des Nachtessens angeschnitten wurden, in ihren wesentlichen Linien wiedergegeben.
O[gi] warb um Verständnis für die Schweiz, welche sich alle Optionen offenhalten will, ihr Beitrittsgesuch nicht zurückzieht, dem EWR-Vertrag vielleicht später beitritt und einstweilen mit der EG auf bilateralem Wege Interessengebiete wie Luftfahrt, Strassenverkehr und Forschung vertraglich zu regeln sucht (zu diesen drei Bereichen wurde je ein Aide-mémoire überreicht).5 M[ajor], der die ausgezeichneten bilateralen Beziehungen zwischen der CH und GB lobte,6 sicherte die gesuchte britische Unterstützung wo immer möglich zu, warnte aber auch vor falschen Hoffnungen, nachdem die EG derzeit mit anderen Prioritäten beschäftigt ist.7 Ohne die EFTA-Länder und die Visegrad-Staaten etwa bleibt das gegenwärtige EG-Europa jedoch Stückwerk. M[ajor] begrüsste die langfristige Politik des Bundesrates und die Anstrengungen der Schweiz zur Vervollkommung ihrer eigenen EG-Fähigkeit.
M[ajor] gab seiner Entschiedenheit, das Maastrichter Vertragswerk vom britischen Parlament ratifizieren zu lassen, dezidierten Ausdruck. Dazu bedarf es noch grosser Anstrengungen, weil die unheilige Allianz zwischen den Euro-Rebellen in den eigenen konservativen Reihen und der Opposition aufgebrochen werden muss. Letztere sucht sich ihr grundsätzliches Einverständnis mit dem Maastrichter Vertragswerk trotzdem noch durch unterschiedlichste Forderungen entgelten zu lassen. M[ajor] hofft, dass er die Vorlage vom Unterhaus im unmittelbaren Anschluss an den (positiven) Ausgang der dänischen Volksbefragung vom kommenden 18. Mai8 verabschieden und dem Oberhaus überweisen lassen kann. Damit erscheint ein Abschluss des britischen Ratifizierungsverfahrens kurz vor oder nach der Sommerpause in Reichweite.9
Auch D[elamuraz] und C[otti] brachten die temporäre Notwendigkeit der bilateralen vertraglichen Absicherung von schweizerischen Interessengebieten zum Ausdruck. Unser Land wirft dabei auch ein gewichtiges finanzielles Engagement in die Waagschale. Dazu soll der Schweizer Öffentlichkeit augenfällig gemacht werden, dass die EG nicht ein zentralistischer Moloch, sondern ein Partner unseres Landes ist.
Die Frage nach der Zukunft des Verhältnisses des britischen Pfundes zum EWS beantwortete M[ajor] mit dem Hinweis auf die sich aufdrängenden Korrekturen des in den vergangenen zwei Jahren zunehmend unflexibel gewordenen Wechselkursmechanismus. Eine Rückkehr des Pfund Sterling ist in diesem Jahr so oder anders ausgeschlossen. Kategorisch zeigte sich M[ajor] auch hinsichtlich einer Ausdehnung der im Rahmen des Edinburger EG-Gipfels für DK erzielten Ausnahmeregimes auf EG-Kandidaten.10 Für diese gilt «all Maastricht, and no opt out». Wie den Schweizern liegt auch den Briten ein dezentralisiertes Europa am Herzen. M[ajor] unterstrich hingegen mit Beispielen seine Überzeugung von einem Katalog von Brüsseler Zuständigkeiten, welche auch beim grundsätzlichen eigenen Wunsch nach einem «decentralized and widened Europe» zum Tragen kommen sollen.
Dem britischen Premierminister zufolge ist eine im genannten Sinne gewünschte, starke EG direkt einem erfolgreichen Abschluss der UR verpflichtet.11 So stimmte M[ajor] aus britischer Perspektive der Schweizer Sicht zu, wonach die im Landwirtschaftsbereich geforderten Opfer zwar beträchtlich, im Sinne des auf anderen Gebieten zu Gewinnenden aber zu erbringen sind.12 M[ajor] warnte vor einer Versuchung, das «Blair House-Abkommen» wieder in Frage zu stellen.13 Dem starken Druck der US-Lobby zum Trotz wolle dies die Clinton-Administration nicht tun, weshalb auch die EG gut daran tue, das gegenwärtig im UR-Rahmen geschnürte Agrarpaket nicht wieder aufzulösen. Die Rolle der G-7 als Motor der Handelsrunde bezeichnete M[ajor] im historischen Rückblick als eher kläglich. Trotz der anhaltenden Schwierigkeiten verspürt M[ajor] nun aber eine sich im Hinblick auf den Tokioter Gipfel von anfangs Juni verdichtende Dynamik.14 Die Einsicht, rund 200 Mia. Dollars an zusätzlichem Handel zu erzeugen und auch der «Obszönität» Einhalt zu gebieten, Unsummen an Entwicklungsgeldern auszugeben, gleichzeitig aber die eigenen Märkte verschlossen zu halten, führt nach M[ajor] zum in Reichweite liegenden Ziel eines erfolgreichen Abschlusses der Welthandelsrunde. Der Premier erwartet im chronologischen Gleichgang auf der US-Front eine Ausdehnung des «Fast track» bis zum Jahresende und auf seiten der neuen französischen Regierung die bahnbrechende Einsicht vom über alle Sektoren hinausgehenden, ausgeglichenen Nutzen des Verhandlungsergebnisses. M[ajor] empfiehlt den Unterhändlern weitere Bemühungen zur Verbesserung auf den Gebieten des Marktzuganges und des geistigen Eigentums. Dabei hofft er, dass der von GD Dunkel vorgelegte Kompromissentwurf im angebrochenen Endspurt möglichst schadlos bleibe.15
Der englische Gast fand anerkennende Worte für den Schweizer Beitrag zur Linderung der vom Bürgerkrieg geschaffenen Not.16 Je schneller die Anerkennung Mazedoniens erfolgen kann, umso besser ist es. In diesem Sinne ist die sich nun via UNO-Beitritt abzeichnende Lösung zu begrüssen.17 Der russische (und zum Grossteil AM Kosyrew zuzuschreibende) Beitrag zu einer einvernehmlichen Behandlung der hauptsächlich serbischen Aggression ist mutig und konstruktiv. Auch von daher ist das Interesse am stetigen Fortschritt des in Russland angelaufenen Reformprozesses gegeben. Wenngleich der Vance/Owen-Plan zur Befriedigung Bosniens auch in britischer Sicht nicht umfänglich zu genügen vermag, ist er doch als einzig gangbar erscheinender Weg zu beschreiten.18 Die Briten wollen ihm notfalls mit verstärkten Sanktionen, welche bis hin zur völligen Isolierung Serbiens reichen können, Nachhalt verschaffen. Kategorisch lehnte M[ajor] hingegen den Einsatz von «NATO peace-making troups» ab.
O[gi] gab eine Darstellung der verschiedenen schweizerischen Leistungen zugunsten der Region19 und zeigte sich besonders um die Sicherheit der Kernkraftwerke des Ostens20 besorgt. M[ajor] setzte sich ebenfalls zugunsten einer Verbesserung der Kernenergiesicherheit in Osteuropa ein. Diesem Anliegen kommt – wie der Beseitigung der Instabilität, welche von den nach wie vor vorhandenen (Atom-) Waffenarsenalen herrührt – prioritäre Bedeutung zu. Der wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Umwandlungsprozess im ehemaligen Sowjetimperium selber wird sich weit in die nächste Generation hineinziehen. Ob der gemeinsamen Sorge um eine erfolgreiche Entwicklung in den sogenannten Visegrad-Staaten dürfen wir die baltischen Staaten nicht vergessen. M[ajor]’s Ansicht nach ist es begrüssenswert, dass die Privatinitiative in Russland immer mehr zu greifen beginnt (Entstehung vieler kleiner und mittlerer Unternehmen). Negativ zu Buche stehen demgegenüber etwa die vielen arbeitslos gewordenen Offiziere und Soldaten sowie die unverantwortliche Inflationspolitik der russichen Zentralbank. Deren Beschneidung diente M[ajor] als Beispiel für die auch britischerseits geforderte Bindung der westlichen Unterstützung an zielgerichtete östliche Reformanstrengungen.
Der englische Gast liess sich auch die Ansichten zur politischen und wirtschaftlichen Konditionalität bei der schweizerischen Hilfsvergabe vorstellen.21 Gemäss M[ajor] kennt auch GB eine solche Konditionalität, wende sie aber mit einer gewissen Flexibilität an. Mit Bezug auf die Soforthilfe einig, welche Präsident Clinton eben in Vancouver seinem russischen Kollegen22 zugesagt hat, sagte M[ajor], es handelt sich um bereits von der vormaligen Bush-Administration bewilligte Gelder, welche zwischenzeitlich unter verschiedenen Programmtiteln neu strukturiert worden sind. Dadurch wird aber die Bedeutung einer Unterstützung des Reformkurses Jelzins keinesfalls gemindert. Als Gebot der Stunde erscheint allen ein gezielter Einsatz der aufgewandten Mittel angezeigt.
Diese Thematik wurde durch C[otti] eingeführt, welcher M[ajor] auch zur Dreiheit NATO–WEU–KSZE befragte. Dieser klammerte in seiner Antwort die KSZE a priori aus, weil er «von NATO und WEU mehr verstehe». Die NATO hat für M[ajor] absolute Priorität, während er der WEU eine gewisse Bedeutung als «West European arm of NATO» zugesteht. Die Bemühungen um die Schaffung eines französisch-deutschen Korps und – im Gefolge – anderer neuer Heeresformationen finden M[ajor]’s Beachtung, «but there’s a long way to go to a European Army». Zur NATO gibt es für M[ajor] auch mittelfristig keine gangbare europäische Alternative. Der US-Truppenabbau lässt sich aufgrund schnellerer Einsatzzeiten der weiterhin verfügbaren Streitkräfte sowie der Verschiebung der alten möglichen Fronten verantworten. M[ajor] warnte aber angesichts der verschiedenen laufenden Konflikte vor einer nachlassenden Verteidigungsbereitschaft.
Der englische Premier erkundigte sich schliesslich nach der Bedeutung der schweizerischen Neutralität, welche er selber als «difficult concept» bezeichnete. Seine Gastgeber wiesen ihn auf die tiefe historische Verwurzelung der Neutralität im Schweizervolke hin, gaben aber auch zu verstehen, dass der Bundesrat in näherer Zukunft sich in einer substantiellen Stellungnahme zur künftigen Ausrichtung der schweizerischen Aussenpolitik aussprechen wird.24 Dabei soll auch der Neutralität im heutigen aussenpolitischen Umfeld besonderes Augenmerk geschenkt werden. M[ajor] hielt mit besonderem Blick auf die Jugend Europas in seiner sympathischen Tischrede fest, diese verlange nach einem «bigger canvas upon which to write their lives on». Er schloss seine Ausführungen mit dem Wunsche, selber noch den Zeitpunkt erleben zu können, zu welchem die Schweiz – zur eigenen und europäischen Bereicherung – den Weg in das Europa der Europäischen Gemeinschaft gefunden haben werde.