dodis.ch/9042
Der schweizerische Gesandte in London, H. de Torrenté, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1

DEUTSCHLAND

Mein erster Mitarbeiter2 hatte heute Gelegenheit, sich mit Mr. Warner, Assistant Head of the Central Department im Foreign Office, über die Gewährung der vollen Souveränität an die Deutsche Demokratische Republik durch die Sowjetunion zu unterhalten. Unser Gewährsmann zeigte sich in seinen Äusserungen zurückhaltend. Er wies darauf hin, dass die neue Situation von den Westmächten gegenwärtig noch geprüft werde, und dass er sich darum darauf beschränken müsse, mehr einen allgemein gehaltenen ersten Eindruck als eine abgewogene Beurteilung der Lage zu vermitteln.

W. sagte, dass der russische Schritt für das Foreign Office nicht besonders überraschend kam. Die Sowjetregierung verfolgt die Politik, der Ostdeutschen Regierung soviel wie möglich den Rücken zu stärken. Sie versucht gleichzeitig, die öffentliche Meinung in Westdeutschland propagandistisch zu beeindrucken und sie beabsichtigt ferner, den Westmächten durch Schaffung neuer Situationen Schwierigkeiten zu bereiten.

Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass der Kreml durch seinen Entscheid denkenden Menschen kaum Sand in die Augen zu streuen vermag. Auch die Verleihung der Souveränität kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sich für die Regierung GrotewohlUlbricht in Tat und Wahrheit wenig ändert. Ihr neuer Status befreit sie nicht vom russischen Einfluss. Sie hat nicht mehr Handlungsfreiheit als sie bisher besass.

Wenn man sich dies vor Augen hält, so findet man, meint unser Gesprächspartner, die westdeutsche Reaktion auf den russischen Schritt zunächst recht erstaunlich. Es macht bei oberflächlicher Analyse in der Tat den Anschein, als ob die öffentliche Meinung in Deutschland dadurch stark beeindruckt worden wäre. Man tut so, als ob die Sowjetregierung den Westmächten einmal mehr die Initiative entrissen hat, indem sie der Regierung der DDR gewährte, was die Westmächte der Regierung Adenauers noch immer vorenthalten. In Wirklichkeit ist es aber nicht die russische Geste an sich, die den Westdeutschen imponiert. Sie hat vielmehr nur den Anstoss dafür gegeben, dass eine längst bestehende Unzufriedenheit sich jetzt durch scharfe Kritik bemerkbar macht, die bisher mit erstaunlicher Geduld zurückgehalten wurde. Es ist die Unzufriedenheit darüber, dass die Verträge von Bonn und Paris wegen der französischen Unfähigkeit, ihre Bedenken gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu überwinden, noch immer nicht in Kraft gesetzt werden konnten.

Der Amerikanische Hochkommissar in Bonn hat auf diesen Punkt in seiner Rede vom letzten Samstag hingewiesen, in der er andeutete, dass das Junktim zwischen der westdeutschen Souveränität und der EVG unter Umständen fallen gelassen werden muss, wenn die Ratifizierung durch Paris und Rom noch lange auf sich warten lässt. Mr. Conant ist nicht der einzige, der die Berechtigung der deutschen Ungeduld erkannt hat. Unser Gesprächspartner betont dies, ist im übrigen aber sehr zurückhaltend mit seinem Kommentar zu dieser Rede, die offenbar ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Britischen Hochkommissar gehalten wurde. Er weist lediglich darauf hin, dass die Verträge von Bonn und Paris nach wie vor als ein Ganzes betrachtet werden müssen, und dass die Chancen für eine Ratifizierung durch das Französische Parlament sicher nicht steigen, wenn man im gegenwärtigen Augenblick mit dem Gedanken einer eventuellen Trennung der Verträge spiele.

Man ist sich in London im übrigen darüber im klaren, dass die Verleihung der Souveränität an die DDR alle möglichen praktischen Auswirkungen haben wird, die neue Komplikationen für die Westmächte in sich schliessen. Welcher Art sie sein werden, wie man ihnen begegnen muss, ist gemäss unserem Gesprächspartner noch zu wenig abgeklärt. Die alliierten Hochkommissare sowie die zivilen und militärischen Amtsstellen der Westmächte in Deutschland verfolgen die Entwicklung mit aller Aufmerksamkeit. Das vorläufig an alle Behörden ausgegebene «mot d’ordre» lautet: Nichts unternehmen, was die Haltung der westlichen Regierungen zu präjudizieren geeignet ist.

Eine erste Auswirkung zeigt sich hinsichtlich der Erteilung der Visa zur Durchquerung der ostdeutschen Zone, um Berlin zu erreichen. Unser Gewährsmann bemerkt hierzu, dass die rechtliche Basis für die Beamten der westlichen Besetzungsmächte absolut klar sei. Der freie Zugang zu den westlichen Zonen Berlins müsse aufrecht erhalten werden und es könne nicht davon die Rede sein, für diese Beamten oder Militärpersonen Visa von den ostdeutschen Behörden zu verlangen. Man habe lediglich deshalb bisher davon abgesehen, bei der sowjetischen Besatzungsmacht zu protestieren, weil die russische Haltung in dieser Angelegenheit noch keineswegs festzustehen scheint. Wenn sich zeigen sollte, dass die Sowjetbehörden auf die Einholung ostdeutscher Visa bestehen, um die Westmächte zu zwingen, wenigstens für diesen Zweck Beziehungen zu den Behörden der DDR aufzunehmen, so werde man mit aller Schärfe darauf reagieren.

W.[arner fügte hinzu, dass die britischen Behörden in Berlin auch mit unserer Delegation in ständigem Kontakt stehen. Man gebe sich in London aber Rechenschaft, dass die Lage für uns nicht die gleiche sei wie für die ehemaligen Gegner Deutschlands3.

1
Schreiben: E 2001(E)1969/121/66.
2
E. Bernath.
3
Zur schweizerischen Haltung gegenüber der Souveränität der DDR vgl. DDS, Bd. 19, Dok. 96, dodis.ch/9041.